Henning Ziegler on Thu, 16 Jan 2003 11:15:07 +0100 (CET)


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Re[2]: [rohrpost] Workshop Freie Software



Lieber Florian,

FC> Freie Software bzw. Open Source ist kein dezidiert linkes Projekt.

Klar, es sind mir nur ähnliche Erklärungsprobleme aufgefallen wie
etwa auf der Privacy-Konferenz, wo Beate Rössler gleich angesetzt hat,
dass "das Private" schützenswert sei. Auf kritische Nachfrage kommt
dann nur "Ja willst du denn nicht auch, dass nicht jeder deine
Handynummer kennt?" oder "Ach du hast bei Butler studiert? Von
Philosophie hat die ja keine Ahnung." Das erste ist ein praktisches
Problem, für dessen Lösung ich das Herumfuchteln mit einer menschlichen
"Freiheit" für übertrieben halte aus Gründen, die bei Butler
nachzulesen sind. Das zweite sieht mir nach der üblichen Arroganz der
deutschen Philosophie aus.

FC> Mit anderen Worten (und mit Bitte um Nachsicht für die Polemik): Als
FC> Foucaultianer und Postmarxist glaubt man nicht an Freiheit und hat
FC> deshalb ein Problem damit, daß etwas oder jemand so frei ist, sich
FC> "frei" zu nennen.  Wenn man ernsthaft so denkt und den Begriff vor die
FC> Praxis stellt, dann ist die "Theorie", auf die man sich beruft, aber
FC> keine "theoria" ("Sichtweise") mehr, sondern ein a priori und Dogma bar
FC> jeder bloßen _Bereitschaft_, sie durch Anschauung von etwas, dessen
FC> Beschreibung sie verfehlt, zu berichtigen.

Damit hat man überhaupt kein Problem, da diese Aussage toujours déjà
kulturell beeinflusst ist und somit genau ins Erklärungsmodell einer
linken Kultur-, Politikwissenschaft oder Soziologie passt. (Was ja
nebenbei auch das Problem von Rorty oder Habermas ist: Eine neutrale
Position ist immer auch subjektiv in ihrer Neutralität, also auch ein
Dogma. Alter Hut, das.)

Anscheinend hast du auch den alten Vorwurf an Butler, sie müsse an
historischen Beispielen ihre Theorie "beweisen." Damit fällt man genau
in die Sichtweise, die Butler kritisiert. Na immerhin kann man mit ihrer
Position nicht den Angriff auf die "Achse des Terrors" rechtfertigen,
wie es Rorty während seiner Vorträge an der FU hat zugeben müssen.

FC> AOL selbst. Und Foucault, Gramsci, Butler etc.  hätten ihre Texte gar
FC> nicht schreiben können, weil die diskursiv-hegemoniale Ordnung ihnen, in
FC> einem soziologischen Gödel-Paradox, ja weder die Subjektivität, noch die
FC> Freiheit gelassen hätte, eben jene Ordnung auf einer Metaebene und somit
FC> von einem Standpunkt jenseits ihrer selbst zu beschreiben.

Die Leistung von Butler, Foucault, Laclau und anderen besteht _gerade_
darin, zu beschreiben, wie dieses angebliche Problem zu erklären sei.

FC> Über die Freiheit von Menschen als solchen, ob Programmierern oder
FC> Anwendern, sagt "Freie Software" zunächst gar nichts aus; genauso wenig,
FC> wie ein Anthropologe, Ontologe oder Metaphysiker auf die Idee käme, das
FC> Konzept der Freiheit ausgerechnet an der Formel "1+1=2" zu erklären. Man
FC> kann solche Zusammenhänge herstellen, wie es z.B. Volker [Grassmuck] als
FC> Aktivist und Soziologe tut, muß es aber nicht, wie etwa IBM mit seinem
FC> ganz unhumanistischen und hegemonialen Linux-Engagement.

Richtig, man muss das nicht. In Deutschland gibt es aber doch (im Gegensatz
zum libertären US-Amerika) zahlreiche Beispiele für Leute, die freie Software
"frei" finden, der von dir zitierte Volker ebenso wie etwa Stefan Meretz
oder die Oekonuxer. Auch Alvar redete von _seiner_ Entscheidung für freie Software.
Im krassen Gegensatz dazu steht deren Verbreitung auf Workstations. An diesem Problem sind
doch auf politischer Ebene schon die 68er gescheitert: Warum hat keiner Lust auf
die Revolution? Ist alles _doch_ nicht so schlecht? Würdest du das
biologisch oder pragmatisch erklären? Ist eben unbequemer, die freie
Software? Die Rede von der Freiheit im Bezug auf Software und Technik steht auf einer Seite mit
Apples oder AOLs Einfachkeits- und Freiheitsslogans. Es gilt sie daher
kritisch zu hinterfragen.

Beste Grüße

Henning

-- 

Henning Ziegler, Berlin
http://www.henningziegler.de


This was your original message from 15.01.2003 -->

FC> Am Mittwoch, 15. Januar 2003 um 12:02:47 Uhr (+0100) schrieb Henning
FC> Ziegler:
 
>> Genau da liegt das Problem auf das ich die ganze Zeit hinaus wollte,
>> und das weder auf der Oekonux noch auf Saveprivacy diskutiert wurde.
>> Viele Statements (in Deutschland) zu "freier" Software und auch zu
>> linker Politik setzen erst _nach_ einem aufklärerischen Menschenbild an.

FC> Freie Software bzw. Open Source ist kein dezidiert linkes Projekt.
FC> Einer ihrer Chef-Evangelisten, Eric S. Raymond, steht politisch sogar
FC> ziemlich weit rechts. Freie Software kommt schlicht aus der alten
FC> Tradition der Natur- und Ingenieurswissenschaften, insbesondere der
FC> Mathematik, Methoden und Erkenntnisse öffentlich bzw. "frei"
FC> auszutauschen.  Computerprogramme sind Algorithmen, somit nichts anderes
FC> als angewandte Mathematik. Bis ca. 1980 zirkulierten sie deshalb
FC> ähnlich frei wie mathematische Formeln und Beweise. Daß man Algorithmen
FC> proprietarisierte, ging vielen Informatikern einfach gegen das
FC> Berufsethos und brachte einige von ihnen, wie Richard Stallman, auf die
FC> Barrikaden.

FC> Man kann die Zitierfreiheit der Mathematik mit Robert Merton zwar einen
FC> "Wissenskommunismus" nennen, eine Schlußfolgerung aber, daß alle
FC> Mathematiker seit Pythagoras Linke oder gar Kommunisten gewesen seien,
FC> hielte ich für verwegen.  

>> Man habe sich "bewusst" für etwas entschieden. Wenn man ein solches
>> Menschenbild philosophisch nicht vertritt, z.B. mit Judith Butler, Laclau
>> und ähnlichen Theoretikern Richtung Gender oder Supermoderne abzweigt
>> und nicht den Hegelianischen Weg mit der Kittlerjugend weitergeht,
>> bekommt man große Probleme, der "freien" Software sozusagen ihre
>> Anführungsstrichlein zu nehmen. 

FC> Mit anderen Worten (und mit Bitte um Nachsicht für die Polemik): Als
FC> Foucaultianer und Postmarxist glaubt man nicht an Freiheit und hat
FC> deshalb ein Problem damit, daß etwas oder jemand so frei ist, sich
FC> "frei" zu nennen.  Wenn man ernsthaft so denkt und den Begriff vor die
FC> Praxis stellt, dann ist die "Theorie", auf die man sich beruft, aber
FC> keine "theoria" ("Sichtweise") mehr, sondern ein a priori und Dogma bar
FC> jeder bloßen _Bereitschaft_, sie durch Anschauung von etwas, dessen
FC> Beschreibung sie verfehlt, zu berichtigen. 

FC> Und wenn "Freiheit" solch eine humanistische Schimäre ist, daß sie nicht
FC> einmal mehr zum Gradmesser von Differenzen taugt, so ist es auch
FC> bedeutungslos, ob man auf der Straße herumlaufen kann oder im Knast
FC> sitzt oder ob wir hier in der rohrpost diskutieren oder in einem
FC> AOL-Forum, das, wie Lawrence Lessig schreibt, per Server-Software auf 23
FC> Teilnehmer beschränkt ist und in dem alles diskutiert werden darf, außer
FC> AOL selbst. Und Foucault, Gramsci, Butler etc.  hätten ihre Texte gar
FC> nicht schreiben können, weil die diskursiv-hegemoniale Ordnung ihnen, in
FC> einem soziologischen Gödel-Paradox, ja weder die Subjektivität, noch die
FC> Freiheit gelassen hätte, eben jene Ordnung auf einer Metaebene und somit
FC> von einem Standpunkt jenseits ihrer selbst zu beschreiben.

FC> Natürlich gibt es auch in der rohrpost keine absolute Freiheit, dagegen
FC> sind Tilman, ich, die Mailman-Software, das TCP-IP-Protokoll und diverse
FC> Sozioautomatismen dieser Liste vor. Du stimmst mir aber gewiß zu, daß es
FC> zumindest einen relativen Grad von Freiheit, zum Beispiel im Vergleich
FC> zum AOL-Forum, gibt. Verwirft man nun aber den Begriff "Freiheit"
FC> insgesamt, kann man solche Differenzen gar nicht mehr beschreiben und
FC> kreiert damit nur die negative Affirmation eines naiven Humanismus.
FC> Meinetwegen könnte sich "Freie Software", der Differenziertheit zuliebe,
FC> bloß "Freiere Software" nennen; da sie aber kein philosophisches,
FC> sondern ein politisches Konzept ist, finde ich ihre polemische
FC> Übertreibung verzeilich; die Stoßrichtung ist so oder so hinreichend
FC> klar.


FC> Davon abgesehen, verstehe ich immer noch nicht Deinen Punkt bezüglich
FC> des Menschenbilds. Das Wort "Freie Software" behauptet nur, daß
FC> digitaler Code frei zirkulieren sollte, und zwar nicht im Sinne einer
FC> anthropologischen, metaphysischen oder ontologischen Freiheit, sondern
FC> im Sinne z.B. der stochastischen Freiheit eines Würfels, auf alle seiner
FC> sechs Seiten zu rollen, oder Deiner Freiheit "1+1=2" zu sagen oder zu
FC> tippen - gegen die wohl auch Foucault und Laclau keine theoretischen
FC> Einwände hätten -, ohne dafür Lizenzgebühren an jemanden zahlen zu
FC> müssen, der diese Formel patentiert hat. (Softwarepatente sind nichts
FC> anderes.)

FC> Über die Freiheit von Menschen als solchen, ob Programmierern oder
FC> Anwendern, sagt "Freie Software" zunächst gar nichts aus; genauso wenig,
FC> wie ein Anthropologe, Ontologe oder Metaphysiker auf die Idee käme, das
FC> Konzept der Freiheit ausgerechnet an der Formel "1+1=2" zu erklären. Man
FC> kann solche Zusammenhänge herstellen, wie es z.B. Volker [Grassmuck] als
FC> Aktivist und Soziologe tut, muß es aber nicht, wie etwa IBM mit seinem
FC> ganz unhumanistischen und hegemonialen Linux-Engagement. Der
FC> Freiheitsbegriff von "Freier Software" ist ausgesprochen nüchtern und
FC> anwendungsorientiert (siehe die "Free Software Definition" auf
FC> <http://www.gnu.org/philosophy/free-sw.html>). Er wäre vielleicht dann
FC> metaphysisch und ontologisch, wenn er z.B. verlangen würde, daß alle mit
FC> Freier Software produzierten Daten als Open Content zirkulieren müssen,
FC> daß man in Freie Software keine Zugangsbeschränkungen (wie z.B.
FC> Paßwortschutz und Nutzerrechte) implementieren darf, daß Freie Software
FC> nicht in Diktaturen und nicht zu Zensurzwecken eingesetzt werden darf
FC> und dergleichen mehr.

FC> Natürlich kann man auch den funktionalen Freiheitsbegriff der Freien
FC> Software mit dem diskurstheoretischen Argument kritisieren, daß es
FC> "Freie Software" im strengen Sinne ebensowenig geben kann wie z.B.
FC> "Freies Wissen", doch geht das nur - und das ist vielleicht auch die
FC> unfreiwillige Ironie von Foucault und Co. - wenn man den Begriff
FC> "Freiheit" fundamentalistisch versteht, als absolute Freiheit, für die
FC> es nur die Option Alles oder Nichts gibt.


FC> Gruß,

FC> -F

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