Florian Cramer on Wed, 15 Jan 2003 18:50:07 +0100 (CET)


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Re: [rohrpost] Workshop Freie Software


Am Mittwoch, 15. Januar 2003 um 12:02:47 Uhr (+0100) schrieb Henning
Ziegler:
 
> Genau da liegt das Problem auf das ich die ganze Zeit hinaus wollte,
> und das weder auf der Oekonux noch auf Saveprivacy diskutiert wurde.
> Viele Statements (in Deutschland) zu "freier" Software und auch zu
> linker Politik setzen erst _nach_ einem aufklärerischen Menschenbild an.

Freie Software bzw. Open Source ist kein dezidiert linkes Projekt.
Einer ihrer Chef-Evangelisten, Eric S. Raymond, steht politisch sogar
ziemlich weit rechts. Freie Software kommt schlicht aus der alten
Tradition der Natur- und Ingenieurswissenschaften, insbesondere der
Mathematik, Methoden und Erkenntnisse öffentlich bzw. "frei"
auszutauschen.  Computerprogramme sind Algorithmen, somit nichts anderes
als angewandte Mathematik. Bis ca. 1980 zirkulierten sie deshalb
ähnlich frei wie mathematische Formeln und Beweise. Daß man Algorithmen
proprietarisierte, ging vielen Informatikern einfach gegen das
Berufsethos und brachte einige von ihnen, wie Richard Stallman, auf die
Barrikaden.

Man kann die Zitierfreiheit der Mathematik mit Robert Merton zwar einen
"Wissenskommunismus" nennen, eine Schlußfolgerung aber, daß alle
Mathematiker seit Pythagoras Linke oder gar Kommunisten gewesen seien,
hielte ich für verwegen.  

> Man habe sich "bewusst" für etwas entschieden. Wenn man ein solches
> Menschenbild philosophisch nicht vertritt, z.B. mit Judith Butler, Laclau
> und ähnlichen Theoretikern Richtung Gender oder Supermoderne abzweigt
> und nicht den Hegelianischen Weg mit der Kittlerjugend weitergeht,
> bekommt man große Probleme, der "freien" Software sozusagen ihre
> Anführungsstrichlein zu nehmen. 

Mit anderen Worten (und mit Bitte um Nachsicht für die Polemik): Als
Foucaultianer und Postmarxist glaubt man nicht an Freiheit und hat
deshalb ein Problem damit, daß etwas oder jemand so frei ist, sich
"frei" zu nennen.  Wenn man ernsthaft so denkt und den Begriff vor die
Praxis stellt, dann ist die "Theorie", auf die man sich beruft, aber
keine "theoria" ("Sichtweise") mehr, sondern ein a priori und Dogma bar
jeder bloßen _Bereitschaft_, sie durch Anschauung von etwas, dessen
Beschreibung sie verfehlt, zu berichtigen. 

Und wenn "Freiheit" solch eine humanistische Schimäre ist, daß sie nicht
einmal mehr zum Gradmesser von Differenzen taugt, so ist es auch
bedeutungslos, ob man auf der Straße herumlaufen kann oder im Knast
sitzt oder ob wir hier in der rohrpost diskutieren oder in einem
AOL-Forum, das, wie Lawrence Lessig schreibt, per Server-Software auf 23
Teilnehmer beschränkt ist und in dem alles diskutiert werden darf, außer
AOL selbst. Und Foucault, Gramsci, Butler etc.  hätten ihre Texte gar
nicht schreiben können, weil die diskursiv-hegemoniale Ordnung ihnen, in
einem soziologischen Gödel-Paradox, ja weder die Subjektivität, noch die
Freiheit gelassen hätte, eben jene Ordnung auf einer Metaebene und somit
von einem Standpunkt jenseits ihrer selbst zu beschreiben.

Natürlich gibt es auch in der rohrpost keine absolute Freiheit, dagegen
sind Tilman, ich, die Mailman-Software, das TCP-IP-Protokoll und diverse
Sozioautomatismen dieser Liste vor. Du stimmst mir aber gewiß zu, daß es
zumindest einen relativen Grad von Freiheit, zum Beispiel im Vergleich
zum AOL-Forum, gibt. Verwirft man nun aber den Begriff "Freiheit"
insgesamt, kann man solche Differenzen gar nicht mehr beschreiben und
kreiert damit nur die negative Affirmation eines naiven Humanismus.
Meinetwegen könnte sich "Freie Software", der Differenziertheit zuliebe,
bloß "Freiere Software" nennen; da sie aber kein philosophisches,
sondern ein politisches Konzept ist, finde ich ihre polemische
Übertreibung verzeilich; die Stoßrichtung ist so oder so hinreichend
klar.


Davon abgesehen, verstehe ich immer noch nicht Deinen Punkt bezüglich
des Menschenbilds. Das Wort "Freie Software" behauptet nur, daß
digitaler Code frei zirkulieren sollte, und zwar nicht im Sinne einer
anthropologischen, metaphysischen oder ontologischen Freiheit, sondern
im Sinne z.B. der stochastischen Freiheit eines Würfels, auf alle seiner
sechs Seiten zu rollen, oder Deiner Freiheit "1+1=2" zu sagen oder zu
tippen - gegen die wohl auch Foucault und Laclau keine theoretischen
Einwände hätten -, ohne dafür Lizenzgebühren an jemanden zahlen zu
müssen, der diese Formel patentiert hat. (Softwarepatente sind nichts
anderes.)

Über die Freiheit von Menschen als solchen, ob Programmierern oder
Anwendern, sagt "Freie Software" zunächst gar nichts aus; genauso wenig,
wie ein Anthropologe, Ontologe oder Metaphysiker auf die Idee käme, das
Konzept der Freiheit ausgerechnet an der Formel "1+1=2" zu erklären. Man
kann solche Zusammenhänge herstellen, wie es z.B. Volker [Grassmuck] als
Aktivist und Soziologe tut, muß es aber nicht, wie etwa IBM mit seinem
ganz unhumanistischen und hegemonialen Linux-Engagement. Der
Freiheitsbegriff von "Freier Software" ist ausgesprochen nüchtern und
anwendungsorientiert (siehe die "Free Software Definition" auf
<http://www.gnu.org/philosophy/free-sw.html>). Er wäre vielleicht dann
metaphysisch und ontologisch, wenn er z.B. verlangen würde, daß alle mit
Freier Software produzierten Daten als Open Content zirkulieren müssen,
daß man in Freie Software keine Zugangsbeschränkungen (wie z.B.
Paßwortschutz und Nutzerrechte) implementieren darf, daß Freie Software
nicht in Diktaturen und nicht zu Zensurzwecken eingesetzt werden darf
und dergleichen mehr.

Natürlich kann man auch den funktionalen Freiheitsbegriff der Freien
Software mit dem diskurstheoretischen Argument kritisieren, daß es
"Freie Software" im strengen Sinne ebensowenig geben kann wie z.B.
"Freies Wissen", doch geht das nur - und das ist vielleicht auch die
unfreiwillige Ironie von Foucault und Co. - wenn man den Begriff
"Freiheit" fundamentalistisch versteht, als absolute Freiheit, für die
es nur die Option Alles oder Nichts gibt.


Gruß,

-F


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