| Florian Cramer on Sat, 29 Apr 2000 20:35:51 +0200 (CEST) |
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| [rohrpost] Reinhard Döhl, Vom Computertext zur Netzkunst [1/2] |
Anmerkung: Mit diesem Vortrag wurde die Ausstellung "Liter@tur:
Computer/Literatur/Internet" <http://www.netlit.de> eröffnet, siehe meinen
Beitrag zuvor. Ich halte ihn jetzt schon für einen Standardtext (ganz im
Gegensatz übrigens zu den Aufsätzen von Stefan Porombka und Hilmar Schmundt
zu Netzliteratur bzw. Freier Software in der aktuellen Ausgabe der "Neuen
Rundschau").
Ich habe den Text von HTML nach ASCII/ISO-Latin1 konvertiert. Das
Originaldokument liegt hier:
<http://www.uni-stuttgart.de/ndl1/computertext_netzkunst.htm>
-FC
* * *
Reinhard Döhl
Vom Computertext zur Netzkunst. Vom Bleisatz zum Hypertext
Der klug formulierte Titel des Karlsruher Unternehmens, "Liter@tur.
Computer / Literatur / Internet", stellt die Literatur zwischen den
Computer auf der einen und das Internet auf der anderen Seite,
zwischen Aufschreibsystem und -mittel und Erscheinungsform. Und er
schreibt das a in Literatur als @ [ÿiter@tur]. Was schon optisch die
Frage provoziert, ob wir es hier mit einer Literatur zwischen der
Skylla Computer und der Charybdis Internet zu tun haben oder ob es
sich bei einer mit dem Computer für das Netz geschriebenen Liter@tur
um eine neue, eine @ndere Literatur handelt.
Wobei ich als Konsens unterstelle, daß die Literatur sich nicht nur
der Medien bedient, sondern die Medien auch die Erscheinungsformen der
Literatur bedingen. Niemand wird ernsthaft Wechselwirkungen zwischen
literarischer, allgemein künstlerischer Hervorbringung und den
gewählten Aufschreibsystemen bezweifeln, in Frage stellen wollen, daß
die kulturgeschichtlich gewichtigen Schritte von der Mündlichkeit zur
Schriftlichkeit, von individueller zu mechanisch vervielfältigter
Schriftlichkeit durch Erfindung des Buchdrucks, und schließlich, mit
Beginn des letzten Jahrhunderts, von der Schriftlichkeit zu
elektronischer Herstellung und Verbreitung Veränderungen für die
Literatur (wie allgemein die Künste) zur Folge hatten: durch den
Rundfunk zum Beispiele zu einer neuen Mündlichkeit, durch den Computer
zu einer neuen Schriftlichkeit, die noch das Bild mit einschließt.
Aleatorische Kunst
Dabei unterscheide ich zunächst zwischen zwei Textsorten:
* Dem improvisierten automatischen Text bei dem die traditionelle
Vorstellung, der Dichter schreibe aus einer inneren Schau, aus
Inspiration, aus dem Un- und Unterbewußten (göttlicher) Eingebung
- zur Methode wird. Der Text wird quasi anonym und
automatisch/unabsichtlich niedergeschrieben, etwa in frei
improvisierten automatischen Texten (ÿcriture automatique),
Zufallscollagen von Buchstaben, Worten, Sätzen oder ganzen
Textpassagen.
* Beim maschinell (oder analog) erzeugten Text wird die Forderung,
ein Text müsse sich lehrbaren und nachvollziehbaren poetologischen
Gesetzen fügen, werden traditionelle Verfahren des Schreibens
ersetzt durch maschinell-kombinatorische Textgenerierung. Würfel-,
Zufalls- und Computertexte - sogenannte stochastische Texte - sind
hierher zu rechnen, ebenso aber auch von Autoren nach den strengen
formalen Regeln erzeugte Texte.
Die Geschichte des zufällig gefügten Textes weist Traditionslinien auf
bis zurück in den Manierismus und den Barock, wo er z.B. in Georg
Philipp Harsdörffers "Frauen-Zimmer Gesprech-Spiel[en]" (1641-49) beim
"Wörterzuwurf" gesellschaftliches Spiel ist, ebenso im 18./19.
Jahrhundert, in dem die Aleatorik an Bedeutung gewinnt, ich nenne als
ein Beispiel "Neunhundert neun und neunzig und noch etliche
Almanachs-Lustspiele durch den Würfel. Das ist: Almanach dramatischer
Spiele für die Jahre 1829 bis 1961 [sic]. Ein Noth- und Hülfs-Büchlein
für alle stehenden, gehenden und verwehenden Bühnen so wie für alle
Liebhabertheater und Theaterliebhaber Deutschlands. Von Simplicius der
freien Künste Magister".
Satirisch auf Wissenschafts-Rationalismus des 18. Jahrhunderts zielt
Jonathan Swift in der Beschreibung einer Maschine, die mit ihrer
zufälligen Textproduktion die spekulativen Wissenschaften durch
praktische und mechanische Operationen [...] verbessern soll
("Gullivers Reisen" III, 5; 1726). Gulliver erhält auf seiner dritten
Reise die Erlaubnis, die große Akademie der Hauptstadt Lagado zu
besichtigen.
Der erste Professor [...] führte mich an einen Rahmen, wo alle seine
Schüler in Reihen aufgestellt waren. Der Rahmen war zwanzig Quadratfuß
groß und befand sich in der Mitte des Zimmers. Die Oberfläche bestand
aus einzelnen Holzstücken von der Dicke eines Würfels, von denen
jedoch einzelne größer als andere waren. Sie waren sämtlich durch
dünne Drähte miteinander verknüpft. Diese Holzstücke waren an jeder
Fläche mit überklebtem Papier bedeckt, und auf diesen Papieren waren
alle Worte der Landessprache, und zwar in den verschiedenen Modis, in
Konjugationen und Deklinationen, jedoch ohne alle Ordnung
aufgeschrieben: Der Professor bat mich achtzugeben, da er nun seine
Maschine in Bewegung setzen wolle. Jeder Zögling nahm auf seinen
Befehl einen eisernen Griffel zur Hand, von denen vierzig am Rande des
Rahmens befestigt waren. Durch eine plötzliche Umdrehung wurde dann
die ganze Anordnung der Wörter verändert. Alsdann befahl er
sechsunddreißig der jungen Leute, die verschiedenen Zeilen langsam zu
lesen, und wann sie drei oder vier Wörter ausgefunden hatten, die
einen Satz bilden konnten, diktierten sie dieselben den vier anderen,
welche sie niederschrieben. [...]
Der Professor zeigte mir mehrere Folianten, welche auf diese Weise mit
Bruchstücken von Sätzen gefüllt waren und die er zusammenstellen
wollte. Aus diesem reichen Material werde er der Welt ein
vollständiges System aller Wissenschaften und Künste geben, ein
Verfahren, das er jedoch verbessern und schneller beendigen könne,
wenn das Publikum ein Kapital zusammenbringen wolle, um fünfhundert
solcher Rahmen in Lagado zu errichten, und wenn man die Unternehmer
veranlassen würde, die verschiedenen Sammlungen zu einer gemeinsamen
zu vereinigen.
Das liest sich auch heute noch nicht ohne Ironie,
* einmal wegen des unverhohlenen Buhlens um Sponsorengelder,
* zum anderen, wenn man an das für die Internetdiskussion
folgenreiche, freilich für mechanische Lesegeräte konzipierte
Memex-Projekt Vannevar Bush's denkt, ich komme darauf noch einmal
zu sprechen,
* zum dritten, wenn man den Namen einer der größten Suchmaschinen,
"Yahoo", als Anspielung auf Jonathan Swifts "Travels into Several
Remote Nations of the World" erkennt, direkt auf die
menschenähnlichen Diener der Houyhnhnms im 4. Buch, der "Reise in
das Land der Houyhnhnms" bezieht, indirekt aber auch auf jene
textherstellende Maschine an der großen Akademie von Lagado, die
uns in den 60er Jahren eine spielerisch ironische Vorwegnahme des
textverarbeitenden Computers schien.
Die Stuttgarter Gruppe/Schule
Wenn ich mich im Folgenden vor allem auf Stuttgart konzentriere,
geschieht dies
* weil für die Stuttgarter Gruppe / Schule um Max Bense sehr früh
bereits - im Rahmen ihres Interesses an experimenteller Literatur
- das Produzieren und eine Theorie stochastischer Texte und
Computergrafik eine Rolle gespielt haben,
* weil wir in Stuttgart seit einiger Zeit in dieser Tradition auch
mit offenen Internet-Projekten experimentieren und weil
* die Stadtbücherei Stuttgart im Rahmen ihrer Neuinszenierung einen
"futuristischen leses@lon" eingerichtet hat, in dem, neben der
traditionellen Lektüre und Ausleihe von Büchern, der Benutzer
jederzeit im Internet surfen und/oder sich in die für ihn dort
bereitgestellte Literatur des Internets vertiefen kann.
Ein Charakteristikum der in soziologischen Verständnis offenen
Stuttgarter Gruppe/Schule war sehr früh bereits ihr Interesse an einer
Verbindung von künstlerischer Produktion mit neuen Medien und
Aufschreibsystemen. Bereits im Oktober/Dezemberheft 1959 der
"Zeitschrift für Tendenz und Experiment", "augenblick",
veröffentlichte der Mathematiker Theo Lutz einen Aufsatz über mit
Hilfe der Großrechenanlage ZUSE Z 22 im Rechenzentrum der Stuttgarter
damals noch Technischen Hochschule geschriebene "Stochastische Texte",
in dem er referierte, daß die ursprünglich [...] für die Bedürfnisse
der praktischen Mathematik und der rechnenden Technik entwickelten
programmgesteuerten, elektronischen Rechenanlagen eine Vielfalt der
Anwendungsmöglichkeiten böten. Für die Benutzer derartiger
Rechenanlagen sei nicht entscheidend, was die Maschine tue, wichtig
[...] allein sei, wie man die Funktion der Maschine interpretiere.
Die Stuttgarter Gruppe/Schule interpretierte wissenschaftlich, indem
sie mit Hilfe elektronischer Rechenanlagen Häufigkeitswörterbücher
herstellte und für exakte statistische und ästhetische Textanalysen
nutzte; sie interpretierte aber auch literarisch, indem sie das
Verfahren der Herstellung von Wortindices praktisch umkehrte und den
Computer anwies, mit Hilfe eines eingegebenen Lexikons und einer
Anzahl von syntaktischen Regeln Texte zu synthetisieren und
auszugeben.
Das erste Programm von 1959, das aus circa 200 Befehlen bestand,
brachte aus heutiger Sicht zwar noch kein aufregendes Ergebnis,
NICHT JEDER BLICK IST NAH. KEIN DORF IST SPÄT.
EIN SCHLOSS IST FREI UND JEDER BAUER IST FERN.
JEDER FREMDE IST FERN: EIN TAG IST SPÄT.
JEDES HAUS IST DUNKEL: EIN AUGE IST TIEF.
NICHT JEDES SCHLOSS IST ALT. JEDER TAG IST ALT.
NICHT JEDER GAST IST WÜTEND. EINE KIRCHE IST SCHMAL.
KEIN HAUS IST OFFEN UND NICHT JEDE KIRCHE IST STILL.
JEDER WEG IST NAH. NICHT JEDES SCHLOSS IST LEISE.
KEIN TISCH IST SCHMAL UND JEDER TURM IST NEU.
JEDER BAUER IST FREI. JEDER BAUER IST NAH.
KEIN WEG IST GUT ODER NICHT JEDER GRAF IST OFFEN.
NICHT JEDER TAG IST GROSS. JEDES HAUS IST STILL.
EIN WEG IST GUT. NICHT JEDER GRAF IST DUNKEL.
JEDER FREMDE IST FREI. JEDES DORF IST NEU.
JEDES SCHLOSS IST FREI. NICHT JEDER BAUER IST GROSS.
NICHT JEDER TURM IST GROSS ODER NICHT JEDER BLICK IST FREI.
[...]
Das erste Programm von 1959, das aus circa 200 Befehlen bestand,
brachte aus heutiger Sicht zwar noch kein aufregendes Ergebnis, hatte
aber für uns den Wert einer Inkunabel künstlicher Poesie, die Max
Bense kurze Zeit später auch theoretisch von der natürlichen Poesie
unterschied:
Unter der natürlichen Poesie wird hier die Art von Poesie verstanden,
die [...] ein personales poetisches Bewußtsein [...] zur Voraussetzung
hat ein Bewußtsein, das Erlebnisse, Erfahrungen, Gefühle,
Erinnerungen, Gedanken, Vorstellungen einer Einbildungskraft etc.,
kurz eine präexistente Welt besitzt und ihr sprachlichen Ausdruck zu
verleihen vermag. [...] Das poetische Bewußtsein in diesem Sinne ist
ein prinzipiell transponierendes, nämlich Seiendes in Zeichen, und den
Inbegriff dieser Zeichen nennen wir Sprache, sofern sie
metalinguistisch eine Ichrelation und einen Weltaspekt besitzt. In
dieser natürlichen Poesie hört also das Schreiben nicht auf, eine
ontologische Fortsetzung zu sein. [...]
Unter der künstlichen Poesie hingegen wird hier eine Art von Poesie
verstanden, in der es, sofern sie z.B. maschinell hervorgebracht
werde, kein personales poetisches Bewußtsein [...], also keine
präexistente Welt gibt, und in der das Schreiben keine ontologische
Fortsetzung mehr ist, durch die der Weltaspekt der Worte auf ein Ich
bezogen werden könnte. Während also für die natürliche Poesie ein
intentionaler Anfang des Wortprozesses charakteristisch ist, kann es
für die künstliche Poesie nur einen materialen Ursprung geben.
An weiteren Unterschieden seien noch genannt die Interpretierbarkeit
der natürlichen und die Nichtinterpretierbarkeit der künstlichen
Poesie, der Modus der Unwillkürlichkeit für die künstliche und der
Modus der Willkürlichkeit für die natürliche Poesie. Wobei sich - was
uns die Sache besondes aufregend machte - eine Begriffspaar aus dem
"Allgemeinen Brouillon" des Romantikers Novalis in seiner Bedeutung
geradezu umkehrte.
Spuren solch künstlicher Poesie lassen sich, eingearbeitet in
natürliche Texte, z.B. in meinen "fingerübungen" (1962), der "Prosa
zum Beispiel" (1965) oder in Max Benses/Ludwig Harigs "Monolog der
Terry Jo" aus dem Jahre 1968 finden. Ich zitiere nach dem Tondokument
die Vorbemerkung des für die Regie verantwortlichen und wohl auch als
Co-Autor anzusprechenden Heinz Hostnigs:
Der Monolog beginnt mit einem Computer-Text. Es sind neun synthetische
Annäherungen an die Sprache des Mädchens. Die Tatsache, daß gewisse
Analogien zwischen dem zu Anfang unbewußten Zustand des Mädchens und
der Unbewußtheit eines Computers bestehen, ließ diese erste Verwendung
eines mit einer programmgesteuerten Maschine hergestellten Textes in
einem Hörspiel gerechtfertigt erscheinen.
Diese Computertexte des Monologs werden in der Realisation übersetzt
in eine durch ein kompliziertes Vocoder-Verfahren hergestellte
synthetische Sprache, die im Verlauf des Monologs mehr und mehr
abgebaut und von der natürlichen Stimme abgelöst wird.
Daß natürliche und künstliche Poesie sich in unseren damaligen Texten
mischten, sagte ich und füge hinzu, daß dies auseinanderzuhalten
selbst Kennern der damaligen Experimente oft schwer fällt. Ein
Beispiel:
MEIN Standpunkt und der Kirschbaum oder die Wegfahrt und der Überblick
oder die Handhabe und das Fortbleiben oder Josef. K. und der
Vormärz oder die Polizei und das dritte Fenster oder ein Horizont
und das zerrissene Blatt oder der Duft und der Anflug das
Verwelkte und das Schiff oder das Unerwartete und das Wort oder
die Zärtlichkeit und das Gehen oder das Lesebuch und das Selbst
oder die Nachwelt und Paris oder das ermüdete Sein und noch ein
Händedruck oder irgendwo und Niemand.
Und zum Vergleich:
A house of paper
among high mountains
using natural light
inhabited by fishermen and families
A house of leaves
by a river
using candles
inhabited by people speaking many languages wearing little or no
clothes
A house of wood
by an abandoned lake
using candles
inhabited by people from many walks of life
[...]
A house of dust
in a place with both heavy rain and bright sun
using all available lighting
inhabited by friends
Keiner, der die beiden Texte nicht kennt, kann mit Sicherheit
vermuten, geschweige denn entscheiden, daß es sich bei Textbeispiel 1
um einen Autortext, einen durch Würfeln aus einer Tageszeitung und dem
Roman Franz Kafkas zufällig bestimmten "Dünnschliff" (1961) Max Benses
[vgl. auch meine Interpretation], und bei Textbeispiel 2 um ein hier
nur auszugsweise zitiertes Computergedicht der Happening-Künstlerin
Allison Knowles handelt. Alison Knowles "A House of Dust" von 1968 war
eine der letzten Publikationen von Computertexten, die wir damals
diskutierten. Ich darf diese Jahre deshalb noch einmal mit Ergänzungen
rekapitulieren:
* 1959 berichtete Theo Lutz im "augenblick" mit Textbeispielen über
ein Programm zur Erzeugung stochastischer Zufallstexte.
* Am 13.12.1960 hält Piere Barbauds im Studium Generale der TH
Stuttgart einen Vortrag "Der künstliche Komponist".
* 1961 berichtet Max Bense in "Zeitgenössische Literatur in
Deutschland", einem Vortrag auf den "Morsbroicher Kunsttagen 1961"
(Schloß Morsbroich, 5.- 7. Mai 1961), unter anderem über die
Stuttgarter Schreibexperimente und löst damit heftige Reaktionen
aus.
* 1962 erscheint in der von Max Bense und Elisabeth Walther
herausgegebenen Reihe "rot" Abraham A. Moles' "Erstes Manifest der
permutationellen Kunst".
* 1963 berichtet S.R. Levin in "The University of Texas Studies in
Literature and Language" über die automatische Produktion
poetischer Sequenzen.
* Im gleichen Jahr übrigens, in dem unabhängig voneinander in
Stuttgart und Erlangen die ersten Grafiken von digitalen
elektronischen Rechenanlagen mit Hilfe eines Zeichengerätes
hergestellt werden.
* Derart computergenerierte Grafik wird erstmals am 4. Februar 1965
in einer in ihrem Verlauf äußerst turbulenten Ausstellung in der
Galerie des Studium Generale der TH Stuttgart vorgestellt mit
Arbeiten und einem Vortrag von Georg Nees, gefolgt von einer
gemeinsamen Ausstellung mit Arbeiten von Georg Nees und Frieder
Nake in der Galerie der Buchhandlung Wendelin Niedlich im November
des gleichen Jahres.
* Beide Ausstellungen werden von Max Bense eröffnet, der 1968 auch
die Anregung zu der von Jasia Reichardt im "Institute of
Contemporary Arts" in London erarbeiteten Ausstellung "Cybernetic
Serendipity" gibt, wo bereits 1965 eine für die Grenzbereich
Literatur/Bildende Kunst ähnlich wichtige Ausstellung, "Between
Poetry and Painting", ebenfalls mit Stuttgarter Assistenz, gezeigt
wurde.
* 1966 berichtet Gerhard Stickel in "Der Deutschunterricht" über
seine mit Hilfe einer IBM-7090-Rechenanlage des Deutschen
Rechenzentrums in Darmstadt hergestellten "Monte-Carlo-Texte" bzw.
"Auto-Poeme", und wählt mit "Autopoem" einen Begriff, den ich
damals übernommen habe.
* Die von der Stuttgarter Edition und Galerie Hansjörg Mayer und der
Siebdruckerei Domberger edierte Mappe "16 4 66" enthält neben
Computergrafiken Frieder Nakes auch mit dem Lichtsatz gesetzte
gespiegelte "Coldtypestructures" von Klaus Burkhardts und Gedichte
von mir, die heute jeder leicht auf seinem PC herstellen könnte.
* 1967 programmieren und geben Manfred Krause und Götz F. Schaudt
ein Bändchen "Computer-Lyrik. Poesie aus dem Elektronenrechner"
heraus:
Das Laub ist aufgeflimmert
die tote Seele wimmert
zum Greise nah und gar
der Schein perlt frei und stecket
und an den Blüten recket
die weite Woge unsichtbar
Wir lieben Schwanenlieder
sind linde grüne Flieder
und sind so mild und klar
wir lichten Donnerklänge
und schenken süße Sänge
und liegen oben in dem Haar
Das war keine Unsinnspoesie, die bewußt den Sinn verstellt, aber auch
keine Parodie des Claudiusschen "Der Mond ist aufgegangen" oder des
Gerhardtschen "Nun ruhen alle Wälder", sondern das Gedicht einer der
Programmiersprache ALGOL [Kunstwort aus algorithmic language] hörigen
Rechenmaschine ZUSE Z 23, Nachfolgerin der ZUSE Z 22, die wir in
Stuttgart zum Dichten angestiftet hatten.
Anläßlich dieser Buchpublikation findet in den Düsseldorfer
Kammerspielen unter Stuttgarter Beteiligung eine Podiumsdiskussion mit
z.T. erregten Einsprüchen des Publikums statt, die auch Ängste
artikulieren.
1968 erscheint von Allison Knowles, zu der wir über die Stuttgarter
Galerie und Edition Hansjörg Mayer Kontakt hatten, "The House of
Dust",
sendet der Saarländische Rundfunk in einer Übersetzung und deutschen
Fassung von Eugen Helmlé Georges Perecs "Die Maschine", ein Hörspiel,
das die Arbeitsweise eines Computers simulierte und uns, die wir ja
vom Text zum Computer gekommen waren, wie ein vorläufiger Schlußstrich
erschien.
1969 werden - wenn ich mich recht erinnere ein letztes Mal -
"Autopoems" ausgedruckt, erscheinen die "poem structures in the
looking glass" von Klaus Burkhardt und mir.
1970 schließlich sendet der WDR meinen Radio-Essay "Sprache und
Elektronik. Über neue technische Möglichkeiten, Literatur zu erstellen
und rezipieren", der von Helmut Heißenbüttel für den SDR übernommen
wird. Wir haben diese Ansätze außer in Vorträgen und Diskussionen
damals nicht weiter verfolgt, sondern unser Interesse an
künstlerischer Produktion mit neuen Medien und Aufschreibsystemen in
andere Richtungen ausgedehnt.
Netzdichtung ist kein Synonym für Computerdichtung
Wichtig scheint mir dabei der Hinweis, daß diese Experimente mit
stochastischen Texten bzw. Autopoemen, mit computergenerierter Grafik,
konkreter Musik und der Verbindung von Sprache und Elektronik parallel
zu verstehen sind mit dem in Stuttgart damals virulenten Interesse an
einer konkreten bzw. visuellen Poesie, an Permutationen, Würfeltexten
oder dem Cut-up-Verfahren, so daß das einzige, von Bense und mir
geschriebene Manifest der Stuttgarter Gruppe/Schule, "Zur Lage" in
Bündelung einer Vielzahl experimentell erprobter Textsorten folgende
Tendenzen unterschied:
1. Buchstaben ÿypenarrangements ûuchstaben-Bilder
2. Zeichen ÿrafisches Arrangement ÿchrift-Bilder
3. serielle und permutationelle Realisation ÿetrische und
akustische Poesie
4. Klang ÿlangliches Arrangement ÿhonetische Poesie
5. stochastische und topologische Poesie
6. kybernetische und materiale Poesie;
dann aber hinzufügte, daßin den meisten Fällen [...] diese
Möglichkeiten nicht in reiner Form verwirklicht und vorgeführt würden.
Wir ziehen die Poesie der Mischformen vor. Solche Mischformen wurden
1972 auch Thema einer Wanderaustellung der Staatsgalerie Stuttgart
("Grenzgebiete der bildenden Kunst"), an deren Aufbau wir
mitgearbeitet hatten. Sie umfaßte die Teile "Konkrete Poesie / Bild
Text Textbilder", "Computerkunst" und "Musikalische Graphik".
Es scheint notwendig, daran zu erinnern, daß es neben dem Interesse an
den Wechselbeziehungen zwischen Kunsthervorbringung und neuen
Aufschreibsystemen in Seminaren, vor allem in Veranstaltungen des
Studium Generale und in Publikationen selbstverständlich ein ebenso
großes Interesse an internationaler experimenteller Literatur, Kunst
und ihren Traditionen gab, das historisch eine Auseinandersetzung mit
dem Werk Gertrude Steins, dessen Rezeption bis heute wesentlich in
Stuttgart stattfindet, James Joyces, dem Kubismus, Dadaismus und
anderen Ismen einschloß. Aktuell diskutierten und veröffentlichten wir
über Werke des Nouveau Roman, Raymond Queneaus, Georges Perecs, Marc
Saportas, der Beat Generation u.a.
Wenn Haroldo de Campos 1970 schrieb:
now i'm cummings!
pound attention!
finneganswait for me!
joyce a moment!
mallarmé!
and arno holzwege!
deutet er über das Wortspiel hinaus ein Feld damaliger und anhaltender
Interessen an.
Der Name Campos, der hier auch für die Brasilianische
Noigandres-Gruppe steht, verweist zugleich auf ein weiteres
Wasserzeichen der Stuttgarter Gruppe/Schule, ihre internationale
Verflechtung vor allem mit Brasilien, Japan, Frankreich, der damals
noch Tschechoslowakischen Republik und den Vereinigen Staaten, ein
Netzwerk, das sich in internationalen Gemeinschaftsarbeiten und
Korrespondenzen u.a. in der Tradition des japanischen
Renga/Renku/Renshi oder der mail art über die Jahre fortknüpfte und
durch Publikationen und Ausstellungen in den 90er Jahren ausreichend
dokumentiert ist.
Meine Aufzählung, die inhaltlich im einzelnen aufzufüllen hier die
Zeit fehlt, möchte belegen, daß sich bereits vor und auch unabhängig
vom Internet Netzwerke aufbauen (und wie ich noch zeigen werde) fürs
Internet nutzen lassen: Netzdichtung ist kein Synonym für
Computerdichtung.
Ein Symposium mit Folgen
Als sich 1994 auf dem Stuttgarter "Symposium Max Bense"
Wissenschaftler und Künstler trafen, ging es retrospektiv
erklärlicherweise auch um die internationalen Wechselbeziehungen der
Stuttgarter Gruppe/Schule. Aber wir begannen infolge dieses Symposiums
auch, in der Tradition unserer frühen Experimente die reproduktiven
und produktiven Möglichkeiten des Internets zu diskutieren, wobei es
nahe lag, den Gedanken der poetischen Korrespondenz für das Internet,
das Internet für ihm gemäße und mögliche poetische Vernetzungen zu
nutzen, und dies in mehrfacher Hinsicht.
* Reproduktiv bot sich das Internet an als ein Ort, die im
offiziellen Kultur- und Kunstbetrieb nur bedingt wahrgenommenen
Interessen der Stuttgarter Gruppe/Schule in Erinnerung zu bringen
["Als Stuttgart Schule machte"].
* Ausgangspunkt für die produktiven Stuttgarter Internetprojekte,
die in der Regel zusammen mit Johannes Auer realisiert wurden (und
werden), waren dagegen aktuelle Anlässe:
"H.H.H. Eine Fastschrift" entstand anläßlich des 75sten Geburtstags
Helmut Heißenbüttels und wurde, bedingt durch seinen plötzlichen Tod,
mit einem wiederum weltweit geknüpften "Epilog" abgeschlossen.
Am 50. Todestag Gertrude Steins errichteten wir ihr zu Ehren ein
virtuelles internationales "Epitaph", das wir mit einer Ausstellung,
dem "Memorial Gertrude Stein" vernetzten dergestalt, daß das "Epitaph"
auch Teil der "Memorials" war, das seinerseits den Schlußstein des
"Epitaphs" setzte.
Auch die Max Bense gewidmete Ausstellung "Kunstraum-Sprachraum" 1999
in Uelzen konfrontierte das Buch mit der Kalligraphie, auf
verschiedene Art Geschriebenes mit auf verschiedene Weise Gedrucktem,
um sich schließlich im Rathaus off line, im Medien-Café on line in
einen virtuellen Ausstellungsraum zu öffnen, der auf dem Server der
Stuttgarter Stadtbücherei von Johannes Auer für diese Uelzener
Ausstellung mit virtuellen Exponaten bestückt wurde.
[Teil 2 folgt]
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