Henning Ziegler on Thu, 26 Feb 2004 14:44:25 +0100 (CET) |
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[rohrpost] DIE ZEIT: Mit der Rasierklinge ins Auge 08/2004 |
DIE ZEIT 08/2004 Mit der Rasierklinge ins Auge Kunst ist Schock, Schmerz, Verweigerung. Die Erwartungen des Staates, der sie fördert, kann sie nur enttäuschen. Sie dient nicht der Gesellschaft, sondern nur sich selbst Von Thomas E. Schmidt Wir schlittern in eine Epoche, die uns lehren wird, wieder das Knie zu beugen. Viele hungern nach Perspektiven, in denen gesellschaftliche Wirklichkeit in einem Licht höher als alle Vernunft erscheint. Von dieser Warte aus ist Rechtfertigung – oder auch Kritik – möglich, an der sämtliche Einsprüche einfach abperlen."Der Andalusische Hund" von Dalí und Bunuel (1928) Foto: defd Die Religion ist wieder ein ernst zu nehmender Zufluchtsort, aber auch die Kunst. So groß ist das Unbehagen an der Welt, dass der Verfall der Moral, die Verhässlichung der Welt durch die globale Wirtschaft, der Irrsinn der Wissenschaft, die Verblödung der Massen, kurz: unsere umfassende Sinnlosigkeitsvermutung anscheinend nur noch durch eine Rhetorik des Hochheiligen oder des Letztgültigen im Zaum gehalten werden kann. Linksliberalismus und Inquisition reichen in Gestalt von Habermas und Ratzinger endlich einander die Hände. Nichts hält mehr den Zug der westlichen Kultur auf in eine Zeit abstoßender fundamentalistischer Scharmützel um geringfügige Prinzipienfragen. Inmitten dieses gleitenden Übergangs in ein Klima des Antisäkularismus markiert die Kunst eine Grenze. Sie ist weltlich, aber es umgibt sie mehr denn je ein Nimbus die Gegenwart überschreitender Wahrheit. Immer noch bildet sie das Gravitationszentrum des geltenden Kulturbegriffs, und auch das deutsche Verständnis von „Bildung“ enthält seit Schiller eine robuste ästhetische Komponente. Kunst ist gerade heute das Ziel eines – im Übrigen begreiflichen – Eskapismus der Jugend in Musik-, Schauspiel- und Kunsthochschulen, und für das Langzeitgedächtnis der Gesellschaft sind Kölner Dom und Matthäuspassion allemal wichtiger als sämtliche Archive. Milliarden fließen jährlich in den deutschen Kulturbetrieb, vermutlich wendet kein Land auf der Welt so viel Geld für die Pflege seiner ästhetischen Gärten auf wie dieses. Wir reden dabei nicht von Denkmalpflege und Museen, sondern von aktueller Kunst, von den Produktionen der Jetztzeit. Nie hatten so viele Menschen die Gelegenheit, als Künstler zu leben, nie war ihre Chance größer, über die Medien ein Publikum zu erreichen. Die Freiheit der Kunst ist durch das Grundgesetz geschützt, der Staat ist ästhetisch ehrgeizlos. Theoretisch müssten wir in einem goldenen Zeitalter leben, tatsächlich leben wir aber nicht einmal in einem eisernen Zeitalter, sondern in einem des Trompetenblechs. Im Zeitalter des Trompetenblechs Denn der überwiegende Anteil an der zeitgenössischen Kunst ist nichts anderes als Kunstgewerbe. Es wird hergestellt, um den Markt der Bücher und der Galerien zu bedienen, oder auch nur, um den Kulturbetrieb in seiner jetzigen Form am Leben zu erhalten. Durchschnittskunst hat eine klare soziale Funktion, aber keine besonders weiten Sinnhorizonte. Um darin ein Goldkörnchen Transzendenz aufzufinden, muss man schon eine Menge Fantasie mitbringen. 90 Prozent der Produktion sind flott erzählt, routiniert gespielt, professionell getüncht und gesampelt. Kunst soll emotionalisieren: Es bleibt dennoch beim ausgeleierten épater le bourgeois. Sie soll gesellschaftliche (Unrechts-)Verhältnisse auf den Punkt bringen: Jeder denkende Mensch weiß, dass die Wirklichkeit komplexer ist als im Repertoire der Schreie und des Flüsterns vorgesehen. Das Ganze hält sich als ein Zirkus der geistigen Unterforderung in Schwung, egal, ob subventioniert oder aus eigener Kraft. Immer höher schrauben sich währenddessen die Ansprüche, die von der Kultur an die Kunst gerichtet werden. Kunst soll den Stress der Globalität lindern, sie soll gesellschaftlichen Sinn stiften, an rechter Stelle normative Eindeutigkeit herstellen und möglichst auch noch die Kinder zu Friedensengeln erziehen. In einem Land, in dem es um nichts anderes mehr geht als den Erhalt eines kommoden Status quo plus ein kleines bisschen Wachstum, lädt sich die Kultur notgedrungen mit solchen Erlösungserwartungen auf. Utopien, Träume, Bilder einer anderen Welt, Antworten auf die Frage „wozu?“: alles Kultur. Kultur ist das exklusive Spielfeld der Experten für die „letzten Fragen“, die in den gesellschaftlichen Subsystemen sinnlos geworden sind. Darüber ist Kultur selbst zu einem Subsystem geworden. Keine Überraschung, dass es ausgerechnet Gerhard Schröder war, der Kultur einen Platz im Bundeskabinett einräumte – Schröder, der den Pragmatismus zum verpflichtenden politischen Stil erhob, was 1998 Charme hatte, weil es die Traditions-SPD aufmischte, aber inzwischen sein hässliches, sein sozialtechnokratisches Gesicht zeigt. Nie war mehr Bedarf an Kompensation durch Kultur. Wo soll Schröders Innovationsgranate zünden? Natürlich im Wunderreich der immateriellen Werte. Die Kultur soll uns in unserem so durch Sachzwänge eingeengten Leben mittels grenzüberschreitender Kommunikation vorm klaustrophobischen Überschnappen bewahren. Sozialtechnisch gesehen, ist die Begründung dieser Hoffnung simpel: Die Kunst liefert anschlussfähige diskursive Ereignisse in ausreichender Zahl, welche das Kommunikationsmedium Kultur in Arbeit halten. Künstlerische Provokationen und ästhetische Kontroversen sind nötig, aber bloß, um gelegentlich die Leitsemantik auszuwechseln. Darin besteht die „kulturelle“ Funktion des Ästhetischen. Solange Kultur funktioniert – als öffentlich sichtbare Bestätigung, dass überhaupt noch Sinn produziert wird, dass die Gesellschaft palavert und nicht Blut fließt –, sind auch Politik und Wirtschaft beruhigt: So schlimm sieht’s gar nicht aus. Ist Beethovens Botschaft die Europahymne? Wäre es daneben denkbar, dass die Kunst, die ernst gemeinte, die große, richtige, nicht das Kunstgewerbe und auch nicht die Kulturbetriebskunst, von jedweder sozialer Zuständigkeit meilenweit entfernt ist? Und dass Kunst überhaupt kein kulturelles Pharmakon ist, welches den Diskurs erregt und die Gesellschaft gleichzeitig beruhigt? Die Stimmung unter Künstlern ist nicht gut. Ratlosigkeit ist verbreitet, und das ist ausnahmsweise einmal ein günstiges Zeichen: Theaterleute setzen sich eindringlich mit der Krise des Theaters auseinander, die Romanschreiber wollen nicht hinnehmen, dass sie nur noch Lebenshilfe für Leserinnen mittleren Alters leisten sollen, die bildenden Künstler staunen darüber, wie schäbig und korrupt das Galerien- und Ausstellungswesen geworden ist, während sich das Musiktheater offenbar ganz fürs Kulinarische und den kulinarischen Skandal entschieden hat. Die Wahrheit ist: Kunst und Kultur sind zwei vollkommen unterschiedliche Formen des Lebens. Kultur ist für sich auch wichtig, aber sie ist weiß Gott nicht die Schiene, auf der die Kunst in die Gesellschaft flutscht und mit ihr der vermisste Sinn des Ganzen. Außerdem ist Kunst etwas, das nur selten vorkommt, viel seltener, als die meisten vermuten. Und sie macht das Leben auch nicht leichter für den, der sich auf sie einlässt, sondern eher schwieriger. Sie verkompliziert das Dasein. Auf schmerzliche Weise konfrontiert sie mit den Gebresten des eigenen Ich. Sie sorgt nicht für soziale Gleichheit und stiftet keine Gemeinschaften im Zeichen irgendeines weltanschaulichen Konsenses. War Malewitsch’ Schwarzes Quadrat der Ausdruck einer innovationsfreudigen Gesellschaft? Ist die Botschaft des späten Beethoven die Europahymne? Hat einer, der gerade Philip Roths Sabbath’s Theater gelesen hat, noch Lust, etwas zur Stärkung der deutschen Gebärgemeinschaft beizutragen? Bedeutende Kunst steht in einem Verhältnis misstrauischer, wenn nicht aggressiver Gleichgültigkeit zur heutigen Gesellschaft. Die Welt soll ja gar nicht mehr ästhetisiert werden, die Träume der Avantgarden sind ausgeträumt. Jede politisch geschürte Kampfeslust der Künste hat sich verbraucht, sie wich einem sublimen Distanzbedürfnis. Wo ein Künstler über einen langen Zeitraum hinweg seine private Mythologie entfaltet, wo er sich als Talkshow-Gast, als Kritiker und als Kommentator Zurückhaltung auferlegt, da gibt es ein gewisses Indiz für das Vorkommen von Kunst, vor allem dann, wenn dieser Künstler sein gesamtes Leben für das Werk in die Waagschale zu werfen bereit ist. Das muss nicht Unverständlichkeit oder näselnde Hermetik nach sich ziehen, aber es bedarf einer gewissen kalkulierten Sturheit, um an einem starken alternativen Verständnismuster der Wirklichkeit zu arbeiten. Den meisten bleibt eine solche Anstrengung unbegreiflich. Bestenfalls geht es in der Kunst ums geistige Überleben, um eine andere Weise wahrzunehmen, zu fühlen, vielleicht auch zu denken. Man kann nicht einmal benennen, worin die „Belohnung“ des Ästhetischen für denjenigen besteht, der sich ihm ausliefert – in einer Freiheit womöglich –, aber wozu genau?, in einer Leere oder in einem Ungesehenen, Ungefühlten, in einer Verstörung oder in etwas „Inkommensurablen“, wie es bei Goethe hieß? Große Kunst bleibt für den gegensäkularen Zeitgeist eine schlechte Verbündete, und zwar nicht nur, weil sie vollkommen weltlich, sondern auch, weil sie radikal individualistisch ist. Man möchte in ihr einen Vorschein von Transzendenz erspähen, gemeint ist aber eine harmlose und sozial verträgliche, im besten Fall sogar: mehrheitsfähige Transzendenz. Aber weder verspricht noch beansprucht Kunst gesellschaftliches Glück. Kulturwerte, ob sie nun „kommunikative Gesellschaft“ oder „sinnstiftende Religiosität“ heißen, bleiben ihr fremd. Ihr Vorbehalt gegenüber der Gegenwart – genauso wie gegenüber der Zeitkritik – ist unbegrenzt. Kunst redet von Flucht, nicht von Utopie. Für die gute Gesellschaft bleibt Nietzsches Satz ein Skandal: „Lieber sterben, als hier leben.“
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