Holger Schulze on Mon, 3 Nov 2003 16:16:43 +0100 (CET) |
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[rohrpost] Was sind Sound Studies? |
liebe liste , einige von euch waren ja dabei - als nachtrag und dokumentation darum der programmatische vortrag mit dem am letzten donnerstag das 1. symposion sound studies eingeleitet wurde . herzliche grüße , holger schulze Was sind Sound Studies? Vorstellung einer neuen und zugleich alten Disziplin von Holger Schulze (Vortrag für das 1. Symposion Sound Studies, Medienhaus der Universität der Künste Berlin, 30. Oktober 2003) Wir hören: Lautsprecher, diskret summend. Monitore und Lichtquellen mit ihrem hochfrequenten Sirren. Ein Luftzug und ein Atmen. Hoher Nachhall, wenn wir die Stimme erheben. Beine und Arme bewegen, wenn wir im Publikum sitzen, sich einander zuneigen; Worte wechseln oder kurz durch den Raum huschen. Durch diesen Raum. Sich weniger bewegen, Aufmerksamkeit sammeln. Warten auf Aussagen und ruhiger werden. Zuhören. Fragen des Klangs Eine Hörerfahrung. Eine Hörsituation, hier und jetzt - in dieser Minute. An diesem Ort. Wie beschreiben wir eine solche Erfahrung? Wie kann ich Ihnen deutlich machen, nachvollziehbar, wie ich hier unsere gemeinsame Hörsituation wahrnehme - und wie können Sie mir die Ihrige Empfindung klar machen? Denn wir wissen nicht, wie der oder die andere hört, wahrnimmt, bewertet und empfindet in einer gegebenen Situation. Die _eine_ Situation bringt genausoviele Hörerfahrungen hervor wie Hörerinnen und Hörer anwesend sind. Einzelne Menschen. Wir fragen uns: Mögen wir diese Situation? Ist angenehm, hilfreich, was wir hier empfinden können? Wollen wir nicht lieber eingreifen, die Gestalt des Gehörten, unsere Klangumgebung signifikant verändern? Ein temporärer, signalhafter Eingriff - oder doch eher eine andauernde Veränderung, langfristig wirksam? Elektromechanische Einspielungen, architektonische Adjustierungen, dekorative Hinzufügungen? Sozial katalytische Handlungen? Wie sähe ein Konzept aus, um diesen Raum, diese Hörsituation umzugestalten? Und wieder: Wie können wir das akustische Konzept anderen nachvollziehbar erläutern? Technisches, anthropologisches, gestalterisches und künstlerisches Wissen, welches fehlt uns? - Und anders: Eine mediale Repräsentation dieser Veranstaltung, wie müsste sie klingen? Medienklänge wären hier anders zu konzipieren. Ein Feature, ein Radiobeitrag, ein Clip - wo läge der Unterschied zu unserer realräumlichen Hörsituation jetzt? * Fragen, die von unterschiedlichen Disziplinen gestellt und in verschiedenen Berufsbildern beantwortet werden. Technisches und wissenschaftliches, gestalterisches und künstlerisches Handeln und Wissen konzentriert sich auf einzelne dieser Fragen. _Fragen des Klangs._ Wie wir darin agieren. Und wie wir ihn verändern. Fragen, die sich Menschen vermehrt stellen, seit Hilfsmittel wie technische Aufzeichnung, Reproduktion, Ausmessung und Nachbearbeitung von Klängen, allgemein verfügbar geworden sind. Seit die Lebenswelt, in der wir uns bewegen, eine in hierarchisch geordneten Entscheidungsprozessen, in Teams und Kommissionen, in Briefings und Pflichtenheften, durch Meilensteine und Evaluationen gestaltete ist. Seit wir uns kaum durch Umgebungen mehr bewegen können, _ohne_ von Klanggestaltungen eingehüllt, aufgefordert, überworfen oder überfordert zu werden. Eine neue Gestaltungsaufgabe Klänge sind Eingriffe in unser persönliches Leben. Wir sind überrascht oder erfreut über das, was unseren Körper, unser Empfinden und Denken durchdringt. Hörgefühle, Denkerfahrungen. Sonische Sensationen befriedigen oder enttäuschen unsere Wünsche, ändern unser Wohlbefinden, bringen uns dazu, aufzuhorchen. Klänge zu studieren. Die Wirkung von Klängen wird als _Schall_ technisch bezeichnet, als Klangfarbe musikwissenschaftlich eingeordnet, als _Hörraum_ oder _Sample_ kulturanthropologisch oder -wissenschaftlich beschrieben. Klangstudien bewegen sich in der jüngeren Neuzeit von Meditationen über die Ausbreitung, die Wirkung und Erzeugung von Klängen, über ein Erzählen literarisch-begrifflicher Zusammenhänge des Hörens, bis hin zu Experimenten mit Klangerzeugern, Klangdämpfern und - verstärkern elektromechanischer und elektronischer Art. Die audiovisuelle Gestaltung setzt musikalische Klänge funktional ein; industrielle Produktion passt die Klanggestalt ihrer Artefakte den vermuteten Bedürfnissen ihrer Kunden und den Re- Briefings ihrer Auftraggeber an - zumeist am Ende eines Entwurfsprozesses, als auditive troubleshooter. Diese Arbeitsteilung und nicht selten ideologische Opposition unterschiedlicher Formen von Klangwissen gelangt jedoch seit einigen Jahren an ihre natürlichen Grenzen. Denn die neue Gestaltungsaufgabe richtet sich nicht mehr auf isolierte Klangquellen, Objekte und Werke, die für sich zu untersuchen und zu gestalten wären - sondern es sind komplex vernetzte, ineinander eingefaltete und sich durchmischende Umgebungen, Umwelten und Artefakte, die klanglich wirken. Umwelten in unseren Städten und Wohnungen, unter unseren Kopfhörern und auf öffentlichen Plätzen, Benutzeroberflächen und Interfaces. Zunehmend unsere mehrheitlichen Erfahrungsräume. Das Wissen vom Klang Die akustische Gestaltung als eine auf den Körper der Hörenden - nicht auf die Möglichkeiten der technischen Apparate - ausgerichtete _auditive_ Kommunikation, diese Klanggestaltung braucht das Wissen aller zuvor erwähnten Wissensformen und Berufe, die _in Klang_ arbeiten. Die pure Notwendigkeit, kulturell-gesellschaftlich und wirtschaftlich-urban, bringt diese auseinanderstrebenden Berufe und Disziplinen des Klangs wieder zusammen. Es entsteht so ein gemeinsames Berufsbild, eine neuen Disziplin: Klangumgebungen zu untersuchen und zu gestalten - _Sound Studies / Akustische Kommunikation_. Die unterschiedlichen Wissensformen von Gestaltung und Technik, Wissenschaft und Kunst kommen in den Sound Studies zusammen. Sie bilden ein notwendiges Komplement zur etablierten _visuellen Kommunikation_ an Kunsthochschulen und Hochschulen für Gestaltung. Die einzelnen Disziplinen und Teilbereiche bleiben dabei jeweils als in sich mit einiger Geschichte und Reputation ausgestattete Wissensformen und Berufsausbildungen erhalten. Doch erst eine systematische Zusammenführung von _Klanganthropologie und - ökologie_ mit _Experimenteller Klanggestaltung_, mit _Auditiver Mediengestaltung_ und _Akustischer Konzeption_ macht es möglich, professionell zu einem Beruf auszubilden, der unsere Umwelt klanglich formen kann: Der Beruf der Klanggestalterin oder eines Klangberaters. Sound Studies sind aber nicht Fächer. Sound Studies sind geformt aus Interessen und Fähigkeiten, aus sinnlichem Gespür, Wissen und Erfahrungen, die die vier erwähnten Teilbereiche verkörpern und vermitteln. Die Zusammenführung dieses Klangwissens war bislang eher genialen Zufällen oder eigensinniger Hochspezialisierung überlassen - in den Sound Studies aber werden sie zielgerichtet gelehrt und studiert. Was sind diese Fähigkeiten? Abschließend möchte ich das vierfache Wissen vom Klang, das die Sound Studies vermitteln, kurz schlaglichtartig beleuchten. 1. Hörerfahrungen vermitteln Wie schon eingangs gezeigt und erwähnt: Eine klangliche Umgebung kennenzulernen, sie auf ihre Wirkungen in der individuellen, je persönlichen Empfindung und Wahrnehmung hin auszuloten, ist ein heikles Unterfangen. Technische Hilfsmittel helfen hier nicht weiter. Wir gelangen vielmehr in den Bereich der Klangerzählungen, narrativer Selbstdarstellungen, Berichten über individuelle Wahrnehmungsvoraussetzungen und von der je unterschiedlichen auditiven Sozialisation, die einer individuell erfahren hat. All dies ist notwendig, um nachvollziehbar zu machen, warum einer oder eine diese Klangumgebung auf jene Weise wahrnimmt, beziehungsweise gerade nicht! Zu lernen ist in den Sound Studies also eine gleichermaßen kulturwissenschaftlich-analytische wie persönlich-narrative Darstellung eines Klangerlebens. Nur so können wir verstehen, welche Klänge auf andere wirken - und anderen, die Wirkung auf uns darstellen. Diese Fähigkeit steht im Mittelpunkt des Faches _Klanganthropologie und -ökologie_. 2. Klangexperimente durchführen Wenn wir in eine gegebene Klangumgebung eingreifen, sie kurzfristig verändern durch vorübergehende _Interventionen_ oder längerandauernde oder gar dauerhafte _Installationen_, so fußen diese Klangexperimente naturgemäß auf sowohl technischen Bedingungen der Schallausbreitung - wie auch auf narrativen Darstellungen unseres Klangerlebens. Ein Wissen um Geschichte und technische Möglichkeiten der Klangexperimente in Klangkunst, Audio Art und elektrokaustischer Musik ist dafür unabdingbar. Klangexperimente durchzuführen ist kein Anfang bei Null, sondern setzt - ebenso wie in den Experimentalwissenschaften - die kollektive Untersuchung des Klangraumes mit neuen und bislang unbekannten Versuchsanordnungen fort. In den Sound Studies werden sowohl die technischen als auch künstlerischen Grundzüge der Experimentalsettings in den unterschiedlichsten Klangkünsten gelehrt - und Klangexperimente in gegenwärtigen, für unser Leben und unsere Erfahrungsräume prägenden Klangumgebungen durchgeführt. Diese geschieht im Teilbereich der _Experimentellen Klanggestaltung_. 3. Medienklänge inszenieren Die überwiegende Zahl der Klangumgebungen, in denen wir uns derzeit bewegen, sind unzweifelhaft mediale Umgebungen. Umgebungen, die uns an unseren Arbeitsplätzen und Wohnräumen, an öffentlichen Plätzen und privatwirtschaftlich genutzten Stadträumen und nicht zuletzt in besonderen Veranstaltungsräumen einhüllen und überraschen. Diese medialen Umgebungen wurden bislang weitgehend selektiv und partiell gestaltet - nicht umfassend und mit Hinblick auf die gesamte Klangerfahrung der jeweiligen Umgebung; und sie wurde zumeist eher in Richtung auf ihren Spektakelwert ausgerichtet als auf die Möglichkeiten der Körper und Ohren der Hörenden. Konzertbauten werden zwar genauso wie Blockbusterfilme oder Popmusikproduktionen akustisch gestaltet - doch die überwiegende Mehrzahl unserer Alltagserfahrungen mit medialen Erzeugnissen in Fernsehen, Rundfunk, Messebau oder Unterhaltungssoftware bleibt in ihrer Klanggestalt merkwürdig krude und vage - so vage, wie es eine visuelle Gestaltung nie sein dürfte! (Dies bestätigen uns in Gesprächen vor allem auch private Rundfunkanbieter, die gerade die Notwendigkeit einer professionellen Ausbildung im Arbeiten mit Klang betonen.) Sound Studies lehren diese Gestaltung einer medialen Klangumgebung als Inszenierung von Medienklängen. Nicht als selbstgenügsame Demonstration technischer Machbarkeit, sondern im Hinblick auf die tatsächlichen Hörmöglichkeiten eines Publikums, seine auditive Aufnahme- und Verarbeitungsfähigkeit. Diese Fähigkeit vermittelt das Fach _Auditive Mediengestaltung_. 4. Klangumgebungen entwerfen Die Kernfähigkeit einer Klanggestaltung und Klangberatung ist somit das konzeptuell stringente Entwerfen von Klangumgebungen. Das Studium des Klangs lehrt also, Klangumgebungen nicht als gegeben hinzunehmen - sondern sie als artifizielle Produkte unserer umfassend gestalteten Welt zu begreifen, deren Einfluss auf die Menschen, die ihnen notgedrungen unterworfen werden, gar nicht hoch genug einzuschätzen ist! Sound Studies vermitteln diese konzeptuelle Fähigkeit, einen klanglichen Entwurfsprozess quer zu allen Möglichkeiten der Klangerzeugung und über alle Medien, Genres und Klangumgebungen verteilt zu leiten und zu hinterfragen. Wie gesagt: Hier sind nicht nur physische Umgebungen oder Environments - sondern genauso digital gestaltete virtuelle Klangumgebungen wie auch Sendeumgebungen in Massenmedien gemeint. Sound Studies führen damit in das professionelle Arbeiten mit Klang den Begriff und das Fach der _Akustischen Konzeption_ ein. Sinnliche Kommunikation In den Medienwissenschaften ist derzeit die Rede von einem 'sonic turn'. Das schmeichelt natürlich uns, den Sound Studies, sehr. Doch sollten wir dabei nicht stehenbleiben. Es wäre zu kurz gedacht, würden wir die euphorischen Lobgesänge auf das Hören und Klingen in den Feuilletons und Populärpublikationen der letzten zwanzig Jahre schlicht weiterführen. Vielmehr geht es um eine ganz grundsätzliche Veränderung der Einstellung zu unserer gestalteten Umwelt. Die Frage _Wie gestalten wir unsere Umwelt - akustisch?_ wäre aus unserer Sicht zu reformulieren als die Frage: Sind wir uns der weitreichenden Folgen bewusst, die unser gestalterisches, technisches, künstlerisches und gedankliches Handeln auf die Hörerfahrungen hat, die wir in den nächsten Jahrzehnten und Jahrhunderten noch machen können - in unseren medial-artifizialisierten Gesellschaften? Eine Frage, die unmittelbar den Horizont öffnet - weg vom vermeintlichen Gegensatzpaar visuelle/akustische Kommunkation - hin zu einem weiteren Projekt: Dem Projekt, die gesamte Welt der Artefakte in ihrer Vielfalt sinnlicher Wahrnehmungen als gestaltete zu begreifen. Der Schritt hin zur akustischen Kommunikation als einer Ergänzung der visuellen ist damit nur der Anfang einer Ausweitung der gestalterischen Verantwortung auch auf die Mannigfaltigkeit der Sinneseindrücke, die auf uns wirken: Gerüche - Geschmack - körperliche Berührungen ... Der Masterstudiengang _Sound Studies / Akustische Kommunikation_ ist in diesem Sinne nur ein Anfang. Ein Anfang, an dem wir seit Herbst 2000 in einem Team mit dem Vizepräsidenten der Universität der Künste Berlin Prof. Peter Bayerer und Prof. Martin Rennert von der Fakultät Musik, sowie einigen anderen Professoren und Dozenten der Universität zusammengearbeitet haben. Ein Projekt, das seit gut einem Jahr vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziell unterstützt wird und seinen Probebetrieb mit Seminaren und Workshops schon aufgenommen hat - und das voraussichtlich zum Wintersemester 2004/2005 als ein neuer Masterstudiengang an der UdK angeboten werden kann. Eine Weiterbildung, berufsqualifizierend. Ein Anfang also, der sich keiner Nebensache zuwendet. Sondern einer Hauptsache: Dem Klang unseres täglichen Lebens. Wie es erträglich, hörbar und lebbar sein könnte in der Zukunft - gestaltet. Vielen Dank. Dr. Holger Schulze Universität der Künste Berlin soundXchange Postfach 120544 D-10595 Berlin Besuchsadresse : Lietzenburger Straße 45 D-10789 Berlin +49.30.3185.2513 +49.179.1269.885 http://www.soundxchange.net http://mediumflow.editthispage.com ------------------------------------------------------- rohrpost - deutschsprachige Liste zur Kultur digitaler Medien und Netze Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost http://post.openoffice.de/pipermail/rohrpost/ Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de/cgi-bin/mailman/listinfo/rohrpost/