Alexis Waltz on Wed, 29 Oct 2003 11:46:45 +0100 (CET)


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[rohrpost] Preview zu De:Bug #77: Die zwei Netze



Die zwei Netze
von Alexis Waltz

                               "Getting High on Information"

Slavoj Zizeks 2000er Buch "Das Fragile Absolute" endet mit
der relativ unvermittelten, kryptischen Aufforderung das
Internet sozialer zu machen. Heute ist das Soziale im Netz
konkreter gefasst als je zuvor, vom Blueprint Slashdot herab
bis zum kleinsten, Freundeskreis-bezogenen Weblog. Einst war
das Internet eher eine große, kollektive Phantasie, heute
existiert es in den zahllosen Arten, in denen es benutzt
wird. Es war ein Traum von totaler Kommunikation, zugleich
der Traum eines informatisierten Neoliberalismus. Diese
große kollektive Phantasie des Internet in der jeder
Radiosender, Großunternehmer war, ist verschwunden. Jeder
konnte etwas ganz anderes meinen und trotzdem vom Netz
sprechen, sich mit seinen Kochrezepten, seinem Portal an die
ganze Welt richten, aus der Manie einzelner oder weniger
heraus entstanden unglaubliche, heimliche Schätze (amazing
discographies, web-deleuze, rolux etwa), Unternehmen hatten
einen neunstelligen Wert ohne etwas produzieren oder
verkaufen zu müssen. Natürlich wussten die einen vom Irrsinn
der anderen, die Netzkritik war das produktivste
theoretische Kritik-Modell vor "Empire". Ein ganz entgegen
gesetztes Begehren war auf dasselbe Objekt gerichtet. Das
spiegelte sich in der elektronischen Musik: Nicht der
universelle Kruder & Dorfmeister-Sound, der einer
befriedeten Konsumarchitektur angepasst war, sondern
Minimal-Techno, mit seinen Idealen von Klarheit,
Transparenz, Effizienz, Immaterialität war der Soundtrack
des Netzes. Der aggressive, marodierende Zynismus von
Electroclash hat sich aus dem Netz verabschiedet.

Das Netz als solches gibt es nicht mehr, sondern Subnetze,
Subsysteme, die (zum Teil) eigene IP-Adressräume, eigene
Protokolle, eigene Ports, eigene Clients, eigene Browser
benutzen: Filesharing-Systeme, Wireless-Nachbarschafts-LANs;
wenn man CD-R-Mp3 Schulhof-Tauschszenen ausschließt, ist die
einzige Konstante das Tcp/ Ip-Protokoll. Statt über "das
Netz" zu sprechen, geht es um konkrete Projekte, Issues,
kommunikative Anliegen. Für die elektronische Musik-Szene
etwa sind Mailinglisten, Chats, Soulseek primäre
Kontaktquellen, nicht mehr Clubs oder Konzerte. Gleichzeitig
sind Systeme wie Kazaa oder Edonkey weitgehend anonyme
"Saugstuben", angeschlossen an die Proben- und Desktop-
Werbefenster-Szene. Technisches Netz-Wissen war einst
speziell, geheim, unverständlich, einst vollbrachte es Boris
Becker: "Ich bin drin", heute kennt jeder mindestens Ebay,
die aktuelle AOL-Fernsehwerbung handelt ausschließlich von
der Abschirmung von Viren, Spam und anderer Feinde. Die
formale Errungenschaft des Netzes, überall jedem alles
verfügbar zu machen, ist einerseits Normalität, Bedingung,
andererseits ist es etwa bei Filesharing eine gewisse
Zurückgezogenheit vorteilhaft. Es scheint als würde ein
allgemeineres Bezugnehmen auf das Netz einem tendenziell den
Boden unter den Füssen wegziehen: Wenn die so genannte
Netzkultur-Szene auf Rohrpost kritisiert, dass sie nicht
mehr bei Telepolis verhandelt wird, gibt es keine
inhaltlichen Argumente, warum das eigene Erscheinen
notwendig, zwingend sein könnte, sondern nur den Hinweis,
dass die eigenen Projekte nicht mehr Thema sind, dass man
selber nicht mehr schreiben darf: eine
Aufmerksamkeitsökonomie, die größtenteils auf einen selber
gerichtet ist. Die Definitionsmacht darüber was Netzkultur
ist, liegt nicht mehr bei einer mehr oder weniger
überschaubaren Gruppe, sondern bei jedem dritten College-
Jugendlichen.

Das Netz funktioniert als primäres Kommunikations-, als
Nachrichten-, Informationsmedium. Ein Aspekt ist die
Verteilung der Daten, ein anderer deren Organisation in
Datenbanken. Für ersteres war die Mailingliste gegen über
der geschriebenen oder generierten Html-Seite das
aktivistischere, schnellere, sozialere Modell. Eine
Mailingliste ist die einfachste Form eines
Redaktionssystems, ist das was eine Zeitung, eine
Zeitschrift wenigstens sein muss: Redaktion und
Distribution. Beides wird durch einen technischen
Mechanismus ersetzt. So verwirklicht sich sozial was Brechts
Radiotheorie bloß versprach: die Identität von Produzent und
Konsument. Message-Boards, Weblogs verschieben das soziale
Modell der Mailingliste ins Netz, machen das Archiv sichtbar
und benutzbar, indem sie Gewichtungen, Bilder, Graphik
zulassen. Php-Nuke, die in unserem kleinen Special
behandelten Rss-Feeds und Wikis sind Vereinfachungen,
Verfeinerungen, Verbesserungen dieses Modells: Wikis heben
die Differenz zwischen dem Rezeptions-Interface Webbrowser
und des Produktionsinterface Html-Editor auf, Rss-Feeds sind
so etwas wie eine Meta-Redaktion, sie erlauben die Headlines
eines Blogs auf andere Seiten zu spiegeln. Insofern sind
Projekte wie die Nettime-Liste nicht gescheitert, sondern
formal Vorlage für das, was das Netz heute in großen Teilen
ausmacht. Die gegenwärtige extreme Dezentriertheit hat einen
extremen Reichtum produziert; zugleich entstehen Probleme,
etwa wie ein zwingender theoretisch-politischer Diskurs ohne
eine despotische Zentral-Instanz geführt werden kann.
Natürlich ist die Apologie des Sozialen an sich nicht
ausreichend, es geht darum welches Soziale und wie es
Organisieren, wie Sortieren, Hierarchisieren. Eine Million
MP3 auf MP3.com sind langweilig. Offen bleibt die Frage der
inhaltlichen Redaktion, eine Frage die auch in den
gedruckten Medien immer unentschiedener beantwortet wird.

Gleichzeitig hat das Netz den Strudel der
spätkapitalistischen Konsumerfindungen angeheizt, die es
manchmal unbrauchbar machen, die manchmal bloß absurd sind:
Das T-Online-Portal mit seiner surrealen Mischung aus
Nachrichten, Produkt-Support und E-Commerce gehört zu den
kaputtesten Medien die je erfunden wurden. Während man sich
hinter der Druckausgabe der FAZ als restbürgerlicher kluger
Kopf fühlen kann, wird man bei faz.net gleich vom Fitness-
Coach an die Hand genommen. Google ist gehackt. Das Netz: Es
gibt spezielle Browser, die ausschließlich Preisvergleiche
von Technikprodukten durchführen. Es gibt zahllose Portale
bei denen kaum auszumachen ist von wem sie wie benutzt
werden. Fast die Hälfte der Deutschen ist nicht online.
Serverseitig scheint die ständige Erreichbarkeit aus der
Mode gekommen zu sein: die Sites mittelgroßer Firmen, etwa
tagesspiegel.de, leisten sich ganz relaxt stunden- bis
tagelange Ausfallzeiten.

Die oft, wenn auch nur auf der schwächsten metaphorischen
Ebene formulierte These eines Netz-Kommunismus ist dem
Kommunitarismus der Blogs gewichen, andererseits ist der
technomodernistische Stalinismus der New Economy
verschwunden zu Gunsten eines banalen Stalinismus der
Medienkonzerne und deren Interessengruppen, die glauben sie
könnten die Bevölkerung mit juristischen
Einschüchterungsmaßnahmen zwingen ihre immer sinnloseren
Produkte zu kaufen.

Aaliyah: "You got issues, i got issues."
Edward Said: "Find your own language. Develop your own authority."

Ideengeber: Erik Stein

Der Text erscheint in einer anderen Version in Debug #77.

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