geert lovink on Fri, 18 Apr 2003 16:45:42 +0200 (CEST)


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[rohrpost] Thesenpapier "Volk", "Bewegung" und "Nation"


http://de.indymedia.org/2003/04/48692.shtml

"Volk", "Bewegung" und "Nation"
Treffen zum Austausch (Workshop)
über die verschiedenen "Querfront"-Phänomene, Renegatentum, die
intellektuelle "Neue Rechte" und "Die Linke"
am Freitag, 18.4., 14.00-20.00 Uhr
im "Grössenwahn", Kinzigstr.9 (U-Bhf. Samariterstr.), Berlin

Nicht erst seitdem NPD-Kader mit Palästinensertüchern rumlaufen und es
Projekte wie "Nationale Anarchie" bzw. "Querfront.de" gibt, geraten bei
vielen Mainstream-Linken, die Koordinaten durcheinander.

Dass es immer unzählige Ex-"Linke/-Linksradikale" gab, die nach einer
Rebell/inn/en Phase, zu mehr oder weniger überzeugten Rechten wurden, bzw.
mindestens ein kapitalismus-konformes Leben begannen, wird meist verdrängt,
bzw. als gegeben hingenommen.

Geschichtlich sind die angeblichen unvereinbaren Gegensätze zwischen Rechts
und Links bereits in der Entstehungsphase beider Strömungen durch Fakten
relativiert worden. Bereits in der Weimarer Republik sind ganze KPD-Gruppen
der NSDAP beigetreten. Ausserdem gab es den gemeinsamen BVG Streik, den
Hitler-Stalin-Pakt...

Heutzutage, wo der offene Nationalsozialismus keine so herausragende Rolle
mehr spielt, ist es leider fatal, dass nur wenig Linke sich fundierter mit
den neueren rechten Strategien, wie dem Querfront-Konzept und mit
Renegaten-Phänomenen beschäftigen. Meistens werden nur spektakuläre Fälle
wie Horst Mahler, Bernd Rabehl bzw. Otto Schily, oder Josef Fischer
wahrgenommen.

Das vor ca. 10 Jahren nach dem Mauerfall und der sog. "Wiedervereinigung"
(übrigens ein jahrzehntelanges Unwort, das fest in rechter/revanchistischer
Hand war) in der FAZ bzw. dem FAZ Magazin, in etwa zu lesen war: "der
Faschismus der kommen wird, wird ein menschlicheres Antlitz haben" wurde
wohl nur von Wenigen registiert. Zwar wird oft aus Hilflosigkeit der Begriff
Faschismus inflationär gebraucht, jedoch fehlt es allzuhäufig am fundierten
Wissen der konkreten Erscheinungsformen. Wenn dann auf diversen Nazi-Demos
die Leitparole "Gegen Faschismus und Intoleranz" lautet, ist für viele Linke
die Verwirrung perfekt.

Hinzu kommt die Aufsplittung in theorielastige und actionfixierte
Fraktionen, die eigene Identitäten konstruieren und sich zum Teil sogar
untereinander bekämpfen. Die sinnvolle Konzentration auf bestimmte
Schwerpunkte führt leider häufig dazu, den Blick fürs Ganze zu verlieren,
bzw. andere relevante Komplexe zu vernachlässigen. Der wissenschaftliche
Ansatz der Interdisziplinarität könnte auch von "der Linken" praktiziert
werden. Theorie und Praxis zusammenzubringen und dabei noch den Überblick zu
behalten, sollte eine Prämisse sein.

Die Wahlerfolge der unterschiedlichen "faschistoiden" Parteien, der sog.
Rechtspopulisten, a la Haider (A), Fortuyn (NL), Berlusconi (I), Le Pen (F),
Blocher (CH), Hagen (NOR), Dewinter (B), Kjaersgaard (DK) etc., sind nur
eine Seite der Medaille.

Die "selbstbewusste Nation" der "Berliner Republik" im "Kerneuropa" als
neuer Machtfaktor vollzieht einen reaktionären Durchmarsch, der
wahrscheinlich unter konservativer Regierung so schnell nicht möglich
gewesen wäre. Schlanker Staat, Sozialabbau im Inneren und Verteidigung
deutscher Interessen am Hindukusch, all diese Elemente aktueller deutscher
Politik zeigen ironisch formuliert, "dass des Führers Grossmachtträume" auf
die stille Art und mit wirtschaftlicher Dominanz viel einfacher und
effektiver zu erhalten sind.

Als Seismographen für diese Entwicklungen haben sich in den letzten Jahren
die Debatten und Konzepte der "Neuen Rechten" erwiesen. Zum Beispiel aus dem
konservativ, faschistischen Think Thank "Studienzentrum Weikersheim", mit
starker CDU-Einbindung, genauso wie aus der einflussreichen "Jungen
Freiheit". Jedoch sind die Personen, die die oben erwähnten Politiken
abnicken, auf Parteitagen der Grünen, der SPD und der PDS zu finden. Mit
sogenannten Sachzwängen, gekleidet in geschickt formulierte rhetorische
Floskeln, wird die Parteibasis Stück für Stück mitgezogen.

In diesem Kontext muss auch die "breite linke Masse" analysiert werden.
Betrachtet mensch einige ihrer Projekte der letzten Jahre, wie zum Beispiel
die aus den "Neuen sozialen Bewegungen" entstandenen Grünen, so war deren
Rechtsdrall schon mit ihrer Gründung, durch zum Teil reaktionäre
Heimatschützer absehbar. Auch übt der Anteil mehr oder weniger rassistischer
Anthroposophen heute noch einen nicht unerheblichen Einfluss aus... Diese
oft publizierten Fakten werden jedoch von nur wenigen bewusst wahrgenommen
und dann meist achselzuckend zur Kenntniss genommen.

Auch der kontinuierliche Verbürgerlichungsprozess, der als links-alternativ
begonnenen TAZ, konnte bei aufmerksamer Beobachtung schon in ihren Anfängen
bemerkt werden. ("tazsachen. Kralle zeigen - Pfötchen geben" Oliver Tolmein,
Detlef Zum Winkel - Konkret Verlag 88) Beim linken Berliner Medienprojekt
"Radio 100" verlief die Desertation ins bürgerliche Lager, mit noch
erschreckenderer Geschwindigkeit. Diese Beispiele liessen sich endlos
fortsetzten. Das Fontane-Zitat: "Wer mit 19 kein Revolutionär ist, der hat
kein Herz. Wer mit 40 noch ein Revolutionär ist, hat keinen Verstand"
scheint immer wieder zuzutreffen. Da drängen sich die 3 W's auf: Wieso,
weshalb, warum?

Ein Aspekt des Nachmittags sollte neben der Bündelung und Strukturierung der
Beispiele, die daraus folgende Analyse der Anpassungsmechanismen sein. Des
weiteren muss es darum gehen, zu überlegen, wie diese Mechanismen zu
durchbrechen sind.

Das Wegdelegieren an die Konstruktion "die Antifa", also an Menschen, die
sich mit dem Themenschwerpunkt Antifaschismus beschäftigen, als dafür
zuständig, ist eher kontraproduktiv und wird dadurch tendenziell eher zu
einem systemstabilisierenden Faktor.

Die kritische Auseinandersetzung mit homogenen Identitätskonstrukten, wie
"Volk", "Nation", "Kiez" und aktuell "Bewegung", wird nur selten geführt.
Des weiteren werden neue Identitäten konstruiert, wie "Antideutsch" contra
die alte mit antisemitischen Steriotypen durchsetzte "Anti-Imp"-Identität.

Dass sogar Menschen, die z.B. "Deutschland muss sterben" von Slime
mitsingen, alle Jahre wieder, wenn Fussball-WM ist, in erschreckendem
Ausmass ihr nationales Coming out geniessen, zeigt wie viel Gruppendynamik
und Lifestyle auch in der Linken eine Rolle spielen und wie wenig Substanz
das häufige Gepose aufzuweisen hat.

Andere erschreckende Phänomene sind das Boomen der
Verschwörungs(theorien)-Fantasien. Wenn einfache Feindbilder und einfache
Lösungsvorschläge nicht mehr greifen, kommt häufig der Sprung zur
übersteigerten Konstruktion und Projektion. Die populärste Version wird
unschuldig in Frageform gekleidet, wie bei Andreas von Bülow oder Matthias
Bröckers. Wobei hier verschärft auf Differenzierung zu achten ist, da real
existierende Zusammenhänge klar von Spekulationen getrennt gehören. Dass
Verschwörungs(theorien)-Fantasien selten ohne antisemitische Stereotypen
auskommen, sollte eigentlich mittlerweile hinlänglich bekannt sein.

Die fliessenden Übergänge zum Irrationalismus, Esoterik, New Age,
Biologismus, Sozialdarwinismus, Heidentum etc. sind ein weiteres Puzzlestück
aus dem Angebot der Konkurrenz-Logik, die sowohl mit rechten/rechtsextremen
wie kapitalistischen Modellen kooperieren.

Um nicht missverstanden zu werden, es soll hier nicht um besserwisserische
Arroganz sondern um Kritik und Selbstkritik, um Reflexion gehen.

Das bedeutet u.a. auch den eigenen, positiven Rassismus ("Exotismus") zu
hinterfragen - die Reduzierung bestimmter Minderheiten, auf zu schützende
Objekte, statt vollwertige erstzunehmende widersprüchliche Subjekte.

Mit überzeugenden Argumenten, Offenheit, Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit
liessen sich sicher einige der vielen anpolitisierten Menschen für
konsequente Herrschaftkritik sensibilisieren. Dadurch wären dann in der
Konsequenz viele sich links nennende dogmatische Organisationen und Parteien
automatisch disqualifiziert. Was wiederum dem undogmatischen,
emanzipatorischen Spektrum Zuwachs verschaffen könnte.

Der Nachmittag soll weder in ein name-dropping ausarten, noch ein Treffen
von Antifa-Expert/inn/en sein. Das Anliegen ist viel mehr eine
Bestandsaufnahme der Strukturen, Wechselwirkungen und Anpassungsmechanismen,
sowohl der bürgerlich, kapitalistischen Gesellschaft, als auch der einzelnen
Lobby Gruppen und Strömungen.

In diesem Sinne für einen konstruktiven Nachmittag am Freitag, den 18.4.2003
ab 14.00 Uhr in der Kinzig 9.



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