Tilman Baumgärtel on Thu, 30 Jan 2003 16:50:08 +0100 (CET)


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[rohrpost] Ich sehe was, was Du nicht siehst


Während der allgemeinen Freudenfeiern über das wundervolle Malerei-Revival 
erinnert ein Artikel in der Süddeutschen von Holger Liebs an die Existenz 
von Videokunst:

http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/getArticleSZ.php?artikel=artikel5000.php

Ich sehe was, was du nicht siehst

Die Malerei boomt – aber die wahre Revolution der Bilder findet in der 
Videokunst statt



Der Mann hatte es eilig, als er die Rolltreppe betrat. Hastig
zwängte er sich an den rechts Stehenden vorbei, deren Hände allzu ruhig auf 
den schwarzen Glanzstreifen der Gummihandläufe ruhten und die nicht 
begriffen zu haben schienen, dass nicht geleeartige Trägheit, sondern nur 
leistungsentschlossene Schritte der fortschrittsgläubigen Erfindung der 
Rolltreppe gerecht werden. Es war sicherlich nicht der Zweck dieser 
diagonalen Zahnradketten, auf ihnen zu verharren: Waren sie doch, so 
glaubte der Mann, erfunden worden, um das Gehen zu beschleunigen, nicht, um 
es aufzuhalten.

Doch nach einer Weile hielt der Mann inne. Sein gesamter Metabolismus 
schien auf einmal durch eine unsichtbare Kraft verlangsamt, aus zielloser 
Ungeduld wurde tranceartige Gelassenheit, und der Raum, den diese 
Verzögerung öffnete, war auf einmal voller Stimulanzien, Impressionen und 
Sensationen, voller blitzartigen Einfällen, theatralischen Erfahrungen und 
plötzlich einschießenden Erinnerungen. Das eintönig flüsternde Klack-Klack 
des Rolltreppen- Zahnradmechanismus’ hatte die Hast gedämpft und beruhigt, 
der Mann wurde passiv und reihte sich ein: Nun genoss er das Bühnenspiel, 
das durch das motorisierte Flanieren auf der Rolltreppe erzeugt wird, den 
Einbruch der Fiktion in den Alltag, der nur dann entsteht, wenn Zeit 
verschwendet wird.

Diese Entdeckung der Langsamkeit, der sirupzäh in die Länge gezogenen Zeit, 
wie sie Nicholson Baker in seinem Roman „Rolltreppe oder Die Herkunft der 
Dinge“ beschreibt, ist eine Erfahrung, die der durchschnittliche 
Museumsbesucher dieser Tage noch vor sich hat. Vielleicht ein, zwei Minuten 
Verweildauer erlaubt sein Terminkalender in einer der zahlreichen 
bilderstarrenden Black Boxes, in denen Simultan-Vorführungen, 
Dia-Projektionen oder Zeitlupenaufnahmen, von den Künstlern vorsätzlich bis 
ins schier Unendliche ausgedehnt, kostbare Betrachterzeit auffressen.

Dabei böten die verschatteten Videokabinette unserer Tage reichere und 
weniger warenförmige Erfahrungsräume als Werbeclips, Pop-Videos und alle 
anderen Couch- Potato- Erlebnisse zusammen – wenn man ihnen nur mit der 
Gelassenheit und dem Imaginationswillen des Rolltreppenflaneurs entgegenträte.

Die zeitgenössische Videokunst ist schlecht beleumundet, was man an den 
geläufigen Kritikermetaphern sehen kann: Wahlweise ergießen sich in den 
Ausstellungen heutiger Projektionskunst Bilder-„Meere“ oder -„Fluten“ über 
angeblich heillos verwirrte Zwangsdauerglotzer, die, durch die permanenten 
Video-Stakkati verschreckt, mit pochenden Herzen die Flucht nach vorne 
antreten und im Grunde am liebsten mit dem Tretroller durch die Museen 
gleiten würden, wenn man sie nur ließe. Dass niemand sich mehr für die 
Videokunst Zeit nimmt, wird dann als Vorwurf ausgerechnet gegen sie selbst 
gewendet: Sie erlaube, anders als die Malerei, kaum Gedankenspiele, sei 
weniger reflexionsgesättigt und versende sich in sinnlose Leere.

24 Stunden Psycho-Folter

Das nun auch schon bald vierzig Jahre alte Genre der Videokunst – also von 
Künstlerhand produzierte, laufende Kamera-Bilder, die aus den 
verschiedensten Gründen meist technisch zu aufwändig oder ästhetisch zu 
sperrig fürs Kino sind – zeitigt inzwischen jedoch eine exakt 
entgegengesetzte, fast paradoxe Wirkung: Während Öl auf Leinwand heute, 
anders als noch bei Watteau, Fragonard oder Turner, fast schon im 
Minutentakt abgehakt und in irgendeine Trendschublade gesteckt wird, 
fordert die Videokunst das Sitzfleisch heraus. Andy Warhol filmt das Empire 
State Building ab: acht Stunden für eine Einstellung. Douglas Gordon legt 
Hitchcocks „Psycho“ auf die Einzelbild-Streckbank: 24 Stunden („24 Hours 
Psycho“). Bruce Nauman hat wochenlang sein menschenleeres Atelier bei Nacht 
aufgenommen: insgesamt 42 Stunden Film („Mapping the Studio I – Fat Change 
John Cage“, zu sehen von 8. Februar an im Kölner Museum Ludwig). Auf der 
letztjährigen Documenta soll man gar mehrere hundert Stunden Video-Material 
verpasst haben.

Durchs eher enge Politkunst-Wahrnehmungsraster der Documenta gezwängt, 
erscheint die Videokunst heute wie eine verspätete, abgehalfterte Filiation 
der Kino-Wochenschauen: wie ein Fenster zur Welt, das es anderswo auch 
gibt, nur dort eben brillanter, größer, fesselnder. Kaum jemand will sich 
noch den im besten Sinne avantgardistischen Zumutungen einer Videokunst 
aussetzen, die mit den Mitteln der Verzögerung, des Bild- Entzugs, der 
forcierten Theatralik oder der narrativen Verschachtelung arbeitet – 
Verfahren, wie sie etwa 1999 im Münchner Lenbachhaus Susanne Gaensheimers 
Video- Ausstellung „Geschichten des Augenblicks“ vorführte oder die gerade 
eben zu Ende gegangene Schau „On Stage“ von Stephan Berg im Kunstverein 
Hannover. Was dazu führt, dass niemand mehr weiß, worüber er spricht, wenn 
es um Videokunst geht: Ich sehe was, was du nicht siehst.

Dabei bauen gerade dieser Tage erstaunlich viele Ausstellungen wieder 
dunkle Kaaba-Interieurs auf, wo die neuen und alten Meister des Genres zur 
vorsätzlichen Zeitverschwendung auffordern. Der Documenta-Künstler und 
Turner- Preisträger Steve McQueen präsentiert seine dicht verwobenen 
Zeitlupen- Erzählfragmente im Pariser Musée d’Art Moderne de la Ville; Stan 
Douglas zeigt in der Kestner-Gesellschaft, Hannover, paranoisch 
durchtränkte Stadt-Szenarien; Marcel Odenbach, ein Pionier des Genres, 
führt nach einer Einzelschau im Frankfurter Kunstverein nun im Kunstraum 
Innsbruck neue Arbeiten vor, und der Rollenspieler Rodney Graham breitet im 
Düsseldorfer K 21 sein labyrinthisches Bilderuniversum aus Videos, Filmen 
und Popmusik aus. Bilder, die zur Langsamkeit erziehen.

Wie sehr die Videokunst der vergangenen Jahre inzwischen auch als medialer 
Filter für die Kunstgeschichte dient – zunehmend auch deren 
Wahrnehmungsräume usurpierend –, zeigen die Arbeiten des 
Video-Grandseigneurs Bill Viola, die nun im J. Paul Getty Museum in Los 
Angeles und später auch in München präsentiert werden. Viola zeigt in 
extrem verzögerten Zeitlupenaufnahmen Darstellungen der Leidenschaften, 
etwa Schmerz oder Erlösung, die sich, unbewusst oder nicht, klassischen 
Vorbildern angleichen, etwa Jacopo de Palmas „Sankt Sebastian“ (um 1590) 
oder Dierick Bouts’ „Verkündigung“ (1450-55). Die allmählichen 
Metamorphosen der Grimassen führen in pathetisch aufgeladener Manier ein 
Panorama des physiognomischen Welt-Alltags vor – und das ist schließlich 
auch etwas, was uns Heutigen begegnen kann, wenn wir etwa, auf einer 
Rolltreppe stehend, in die Gesichter ganz normaler, ebenso verträumt 
dahingleitender Zeitgenossen blicken.

HOLGER LIEBS

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