Florian Cramer on Wed, 4 Dec 2002 18:55:02 +0100 (CET)


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Re: [rohrpost] Lev Manovich, banales beispiel: der zoom im Acrobat Reader


Am Montag, 02. Dezember 2002 um 23:07:51 Uhr (+0100) schrieb Heiko Idensen:

> ... eine auseinandersetzung, die meiner meinung nach auch zeigt, dass man mit
> den manovich-theorie-ansaetzen ganz gut ARBEITEN kann
> (im gegensatz zu vielen akademischen medien-theorie-spielereien
> und kopfgeburten ...)

Volle Zustimmung. Manovichs Vortrag bei der "performing media"-Konferenz
der FU Berlin war in dieser Hinsicht eine sympathische Katastrophe.
Sein Vortragsstil war ein einziges, sich verzettelndes Chaos und
strapazierte die Geduld des Publikums weit über Gebühr. (Ungefähr ein
dutzend Zuhörer verließen den Saal vorzeitig.) Zudem waren seine Thesen
von der "cultural software" weder sonderlich elaboriert, noch
begrifflich durchgearbeitet oder gar kohärent. 

Darüber schien aber dem Publikum völlig zu entgehen, daß er interessante
künstlerische Arbeiten zeigte, vor allem die von John Simon, von denen
er annahm, daß sie allerseits bekannt seien, ich aber wette, daß kaum
einem der Konferenzteilnehmer ein Begriff waren.  Auch ging Manovichs
These, daß das Konzept der Medien bzw. neuen Medien an sein Ende
gekommen sei und durch "cultural software" ersetzt werden solle, im
Publikum unter bzw. wurde gar nicht erst ernstgenommen. Das war schade,
denn aus meiner Sicht hätte es sich gelohnt, dies zu diskutieren.

So ist mir ein chaotischer Manovich, selbst in der Tagesform vom letzten
Freitag, sympathischer als eine Medienwissenschaft im öffentlichen
Dienst, die trotz ihrer digitalen Forschungsgegenstände seit schon fast
zehn Jahren fast nichts gescheites z.B. über digitale Künste und
Netzkulturen zu sagen weiß, weil sie sich selbst fürs Netz und für einen
"hands-on"-Umgang mit Hardware, Software und Programmierung zu schade
ist und für zeitgenössische Kunst auch gar nicht wirklich interessiert
(es sei denn, sie kommt als Diskursprodukt aus denselben akademischen
Elfenbeintürmen).

Dagegen ist Manovichs "Theorie" eine Art Steinbruch. Sie liefert immer
wieder interessante Ideen und Beobachtungen, die dazu einladen, sie zu
elaborieren und zu präzisieren. Dazu zähle ich z.B. seinen Begriff der
"Datenbank als symbolischer Form" - die Idee allein ist genial,
wenngleich immer noch nicht vernünftig weitergedacht-, ferner seine
Beobachtung, daß digitale Werke sich vor allem durch ihre
Transcodierbarkeit auszeichnen, und mit Einschränkungen auch das Konzept
einer "cultural software", die an die Stelle von Medien tritt. 

Ich selbst würde zwar nicht von "kultureller Software" sprechen, weil
mir das als ein Pleonasmus erscheint (Software ist immer kulturell, es
sei denn, man begibt sich auf spekulative Gebiete wie die Genforschung),
aber vermutlich in Übereinstimmung mit ihm wie folgt formulieren: Bild-,
Ton- und Schriftträger werden zunehmend nicht mehr als Einheit einer
digitalen Codierung mit einem Ausgabegerät entworfen, wie z.B.  noch die
Audio-CD und die Video-DVD, sondern nur noch als Software [siehe PDF,
Flash, DivX, mp3, HTML], die einem dynamischen Wandel - einem
permanenten Update-Zyklus - unterliegt, um noch stabil und
zufriedenstellend in Hardware implementiert zu werden. So tritt Software
dank der Tatsache, daß Computer als Universalmaschinen in sich jede
existierende und künftige Maschine nachbilden können, zunehmend und
systematisch an die Stelle klassischer elektronischer
"Medien"-Apparaturen. Die Politik und durchs Format ausgeübte Kontrolle
über "Medien" verschiebt sich dadurch vom staatlich kontrollierten
Räumen (die z.B. durch Sendelizenzen, Medienanstalten, internationales
Medien- und Urheberrecht geregelt werden) in Privaträume und übt sich
zunehmend nicht mehr als Gesetz, sondern als in Software-Algorithmen
eincodierte Kontrollmechanismen aus, im Positiven wie im Negativen.
[Freie Software folgt dieser Logik ebenso wie Digital Rights Management
oder Microsofts "Palladium"-Architektur.]

- Über all das hätte man am letzten Freitag diskutieren können, doch es
schien, als wollten die Veranstalter die vermeintliche Peinlichkeit
von Manovichs Vortrag schnell abhaken, so daß es zu einer Diskussion
nicht mehr kam. (Man muß den Konferenzteilnehmer allerdings
zugutehalten, daß sie von einem langen Tag und Manovichs gnadenloser
Zeitüberziehung ausgepowert waren.)

-F

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