Tilman Baumgaertel on Fri, 18 Oct 2002 18:15:09 +0200 (CEST)


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[rohrpost] Der neue Supercode


http://www.frankfurter-rundschau.de/fr/140/t140001.htm

Der neue Supercode 

Der Kampf der Peripherie gegen das Zentrum 

Von Niels Werber 

Mit dem Ost-West-Konflikt, der alles zu erklären hatte, war es vorbei, und
überhaupt hatte das Denken in binären Oppositionen wie Freund und Feind
oder gut und böse am Ende des letzten Jahrtausends seine einstige
Attraktivität eingebüßt. Das scharfe "Entweder - oder" ließ man zurück, um
Vernetzungen, Vielheiten, Verflechtungen zu entdecken. Nicht die
Unterscheidung von seinem Gegenteil klärt nun die Sache, sondern die
Einbettung in ein Feld, war doch oftmals das Gegenteil, etwa des
Kapitalismus, ohnehin nicht mehr auszumachen.

Dieser Wechsel von der Differenz zum Rhizom prägt auch die
Selbstbeschreibungen der Kunst. In seinem Essay zum documenta 11-Katalog
geht der Kurator Okwui Enwezor davon aus, unsere Welt sei netzwerkartig
organisiert, sie sei deterritorialisiert oder a-territorial. Alles strömt
und fließt, verschaltet und vernetzt sich, die alten Differenzen (Nord-Süd,
Ost-West, Imperien- Kolonien) scheinen obsolet. Diese neue Form der
Weltgesellschaft hat gewissermaßen vom Raum abgehoben. Plateaus, Rhizome,
Netzwerke, Multitudes haben den gewalttätigen Raum des Imperialismus und
der Hegemonie hinter sich gelassen. Mit dieser Beschreibung hätte man sich
vielleicht noch vor zwei oder drei Jahren anfreunden können, als Jeremy
Rifkin das Ende des Eigentums im Age of Access verkündete, J.P. Barlow vom
Cyberspace die Befreiung des Menschen von der Materie erwartete oder Bill
Gates und Al Gore der Welt einen friktionslosen, freundlichen,
umweltschonenden Kapitalismus versprachen.

Gegen globale Totalität

Die Anschläge vom 11. September 2001 haben mit derartigen Illusionen
aufgeräumt, und auch Enwezor scheint den Glauben an eine
deleuze-guattarische Welt der Plateaus verloren zu haben. Denn im zweiten
Teil seines Essays geht er von einer weltweiten Konfrontation aus, die mit
allen bisher genannten Kategorien nicht zu beschreiben ist, weil sie binär
ist und im Raum stattfindet. Es ist der Kampf der Peripherie gegen das
Zentrum. Das 21. Jahrhundert werde geprägt von einem Befreiungskampf der
Peripherien gegen die zentrale hegemoniale Macht des Westens. Zumal der
politische Islam kämpfe gegen die "globale Totalität" der westlichen
Weltanschauung mit dem Ziel, "ihre Gesellschaften vor der totalen
Integration zu bewahren."

Die Attacken vom 11. September 2001 sind Enwezors bestes Beispiel für die
"antihegemonistische Opposition" der Peripherie. S11 (September Eleven) sei
als der "Fall zu begreifen, mit dem die Peripherie ins Zentrum rückt". In
diese Frontstellung der Peripherie gegen das Zentrum stellt Enwezor gleich
neben die S11-Attentäter den "Kampf der Palästinenser", die
"Straßenschlachten, die sich Antiglobalisierungsgegner in Genua, Seattle,
Montreal und anderen europäischen und nordamerikanischen Großstädten mit
der Polizei liefern", sowie die Demonstrationen in der Dritten Welt gegen
Weltbank und Währungsfond. Ground Zero liege auch in Gaza oder anderswo und
sei nur der exemplarische Ort, "an dem die Abrechnung mit dem Westen
beginnt". Die neue Superdifferenz Zentrum- Peripherie hat eine derartig
generalisierende und vereinfachende Kraft, dass so unterschiedliche
Phänomene wie islamischer Terrorismus, Globalisierungskritik oder Armut in
Schwellenländern umstandslos in eine Schublade gepackt werden können: den
Kampf der Peripherie gegen das Zentrum.

Enwezors Projekt gerät so reichlich zwiespältig. Einerseits wird die
postkoloniale, atopische, deterritorialisierte Weltgesellschaft gefeiert
als Ort der Hybride, Netze und Rhizome, anderseits wird dieselbe
Weltgesellschaft von einer einzigen geopolitischen Differenz gespalten
zwischen der westlichen totalen "Weltordnung" und dem Widerstand der
Peripherien gegen ihre "totale" Integration.

Ob nun Globalisierungsgegner, Anhänger der Tobin-Steuer oder Terroristen
gegen die von den USA geführte westliche Dominanz vorgehen: der Kampf
findet in den Städten statt. Enwezor nennt Seattle, Genua, New York. Soweit
die Stadt, wie Abdoumaliq Simone im documenta 11-Buch sicherlich im
Anschluss an Saskia Sassen schreibt, soweit die Global City als Knotenpunkt
des globalen Netzwerks ökonomischer Transaktionen zu betrachten sei,
insoweit werde sie auch zum Ziel und Schauplatz jenes antihegemonialen
Kampfes, von dem Enwezor behauptet hat, dass er sich genau gegen diese
"globale Totalität" richte. Hier kommen nun beide Diskurse: Welt als
Netzwerk und Welt als Differenz von Zentrum und Peripherie zur Deckung,
denn die Stadt ist offenbar beides: Knoten eines Netzwerks und Zentrum.

Der Soziologe und Systemtheoretiker Dirk Baecker kommt in einem Beitrag zum
Sammelband Terror im System. Der 11. September und die Folgen zu einer
ähnlichen, also zweipoligen Sicht der Dinge. Zunächst einmal seien die
Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon sowie die
"amerikanische Antwort" Elemente eines Konflikts, den die "Weltgesellschaft
mit sich selbst" austrägt. Weltgesellschaft ist hier der systemtheoretische
Name für eine Gesellschaft mit globaler Arbeitsteilung, globaler Vernetzung
und globaler Kommunikation, für deren Beschreibung Enwezor Vokabeln von
Deleuze, Guattari und Agamben benutzt hatte.

Die Systemtheorie versteht Weltgesellschaft als "das System aller
füreinander erreichbarer Kommunikationen". Dank der neuen Medien spiele der
Standort der Kommunikationsteilnehmer keine Rolle mehr. Die neue raumlose
Gesellschaft "konnektivistischer Fluidität" hat Helmut Willke Atopia
genannt. Atopia meint eine globalisierte Gesellschaft, für die "Ort, Raum
und Entfernung zu vernachlässigenden Größen" werden. Noch Rudolf Stichweh
hat in einem Essay für diese Zeitung (FR vom 2. 10. 2001) auch nach den
S11-Anschlägen an dieser Konzeption im Wesentlichen festgehalten.

Dieses von der Systemtheorie bislang bevorzugte Konzept einer raumlosen,
atopischen Weltgesellschaft wird von Dirk Baecker nun korrigiert. Baecker
vermutet unter dem Eindruck der S11 Anschläge und der amerikanischen
Reaktion, dass "dieser Krieg daran arbeitet, einen Weltordnungszustand
wiederherzustellen, der sich nach Zentrum und Peripherie unterscheidet".
WTC und Pentagon symbolisierten gewissermaßen das Zentrum des Zentrums der
Weltgesellschaft: Amerika. Die Systemtheorie der Weltgesellschaft, die
Raum, Boden, Macht, Territorium und Kontrolle für obsolet erklärt hatte,
beschreibt die Welt nicht länger als laterales, multipolares Netzwerk
"konnektivistischer Fluidität", sondern als Differenz von Hegemonialmacht
und ihren Gegnern. "Der Terrorakt ist", so Baecker, "eine schlichte, aber
unübersehbare Erinnerung daran, dass das Zentrum der Weltgesellschaft für
seine Peripherie in der Verantwortung einer Ordnungsmacht steht." Das
"Zentrum der Weltgesellschaft, Amerika" sehe sich der Aufgabe gegenüber,
"die Weltgesellschaft insgesamt, also unter Einschluss der äußeren
Peripherie, zu ordnen".

Geopolitische Wende

Enwezor sieht dies ganz ähnlich, S11 rücke "die Peripherie ins Zentrum",
und Hartmut Böhme ebenfalls, der von einer "Explosion der Peripherie im
Zentrum der Global City" gesprochen hat und den Terroristen als
Repräsentanten des Lokalen bestimmt, der "jederzeit in den
Kommandozentralen der Weltordnung erscheinen und explodieren kann". Und
genau wie bereits Enwezors Essay von der vagen Aterritorialität der
Netzwerke zum sehr konkret zu verortenden Kampf der Peripherie mit dem
Zentrum findet, reterritorialisiert Baecker die Raumlosigkeit der
Systemtheorie in einer geopolitischen Wende, die der USA die Rolle einer
Weltordnungsmacht zuweist.

Die schon oft totgesagte Geopolitik triumphiert über die vermeintliche
Deterritorialisierung der Weltgesellschaft. Es geht nun um nicht weniger
als eine neue Welt-Raum-Ordnung. Und die ist binär. Es mag zwar nach wie
vor Tausende von Plateaus, Netzen und Rhizomen geben, doch gibt es eine
Differenz, die alles supercodiert: Zentrum und Peripherie. Die Lage der
Welt ist weder einfacher noch friedlicher, sicher aber übersichtlicher
geworden.

 

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Copyright © Frankfurter Rundschau 2002
Dokument erstellt am 17.10.2002 um 21:08:05 Uhr
Erscheinungsdatum 18.10.2002

 





 



 


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