Tilman Baumgaertel on Wed, 7 Aug 2002 11:25:05 +0200 (CEST) |
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[rohrpost] Bücher mit serienmäßiger GPS |
http://sueddeutsche.de/aktuell/sz/artikel793.php Mittwoch, 7.8.2002 Auf dem Bildschirm wird alles zu konkreter Poesie Mit 360 Grad Kurvenlage sicher durch jeden Text: Endlich gibt es auch für Bücher-Piloten serienmäßig GPS Das Neueste aus der literarischen Galaxie: Es gibt jetzt ein Navigationssystem, um sie zu bereisen. Und es kostet keinen Aufpreis, sich dieses GPS ins Lektüre-Cockpit einbauen zu lassen: Unter der Internet-Adresse www.TextArc.org stellt der New Yorker Software-Entwickler W. Bradford Paley ein Programm bereit, das mehr als 2000 englische Texte aus der Online- Bibliothek „Project Gutenberg“ einspeisen und grafisch darstellen kann. Selbst lange Romane wie Bram Stokers „Dracula“ bildet es gleich zwei Mal auf dem Monitor ab, und zwar so: Im äußeren Oval stehen wie im Uhrzeigersinn fein schraffiert alle Zeilen des Romans. Die Schriftgröße beträgt nur einen Pixel, wird jedoch lesbar, wenn man mit dem Mauspfeil darüber fährt. Das Layout des Buches bleibt intakt, so dass man bei Lewis Carrolls „Alice’s Adventures In Wonderland“ auf der Zwei-Uhr-Position immer noch das berühmte Gedicht in Form eines Mäuseschwanzes erkennt. Im Innenraum des Ovals stehen einzelne Wörter, je häufiger im Werk enthalten, desto heller leuchten sie. Das Programm modernisiert und popularisiert das literaturwissenschaftliche Instrument Konkordanz, weil es die Wörter nicht nur zählt, sondern sie zugleich blitzschnell an ihrem Ort im großen Ganzen greifbar macht. Denn berührt man ein Wort mit dem Mauspfeil, schießt von dort aus ein Strahlenkranz zu all jenen Zeilen im äußeren Oval, in denen es enthalten ist. Platziert sind die Wörter nach ihrem mittleren Erscheinungsort, bei Edgar Allan Poes „Fall Of The House Of Usher“ steht „sound“ weit links. Auch wenn man die Erzählung nicht kennt, sieht man also sofort, dass sich diese große Paranoia-Geschichte, die mit visuellen Begriffen wie „impression“, „imagination“ und „scene“ rechts oben beginnt, Geräuscheffekten erst im hinteren Teil bedient. Eine Anhäufung von „nervous“ deutet jedoch schon früh auf die spätere Zerrüttung hin, wenn von der zuvor oft erwähnten, Geborgenheit verheißenden „family“ längst keine Rede mehr sein wird. Paley zufolge soll sich der unbekannte Text intuitiv auf einen Blick erschließen. So öffnet „TextArc“ einen neuen, synoptischen Zugang auf epische Kunst und verwandelt jedes Buch in konkrete Poesie. Denn durch die Darstellungsweise entstehen individuelle digitale Kunstwerke. Es sind Gebilde, die aussehen wie ferne, spiralige Weltraumnebel. Klickt man bei „Alice“ zugleich die Protagonistin und das „rabbit“ an, sieht man an deren Strahlenkronen, dass sich die Begriffe umkreisen und den Roman erhellen wie ein Doppelsternsystem. Paley sagt, er wolle mit dem Programm die Mise en scène eines Werkes verdeutlichen. „TextArc ermöglicht es, den Text auf nicht lineare Weise zu lesen“, sagt Bruce Ferguson von der Columbia University School of Arts: „Es macht den Text reicher und interpretierbarer.“ Aber keinesfalls solle sein Programm den Originaltext ersetzen, so Paley, er wolle lediglich ein Instrument liefern, eine „gestalt overview“, die einen in den Text hinein ziehe. Und aus dem Werk sei nun eben ein Spielzeug geworden. Dabei besteht kein Grund zur Sorge, die konventionelle Textform gerate durch TextArc in Vergessenheit. Nein, ein Roman wird mit diesem Programm noch attraktiver, seine beiden Gestalten treten miteinander in Beziehung, denn der Originaltext kann zusätzlich aufgerufen werden. Mit all den geöffneten Fenstern auf dem (möglichst großen!) Bildschirm fühlt man sich dann wie ein Weltraumpilot auf Erkundungsreise durch eine Galaxie aus Sprache. Ja, wenn man das Programm Romane lesen lässt, dann wird es erst richtig aufregend: Kürzlich gelesene Wörter treten im inneren Oval grell hervor und verblassen mit der Zeit – wie Kursbojen, wie Begriffe im Kopf. Hier und da brechen gelbe Sandwürmer aus einem Wüstenplaneten, dort kommt es zu Eruptionen auf Sonnenoberflächen. Bei diesem schleifenwerfenden gelben Band handelt es sich um die „story line“, die die Verkettung der Wörter beim Lesen anzeigt – so, als sei der Originaltextfaden durch das TextArc-Strickmuster gezogen worden. Zusätzlich explodieren die zentralen Begriffe in pinkfarbene Gespinste, die ihre Assoziationen zu anderen Wörtern markieren. Der Bewusstseinsstrom wird Rezeptionsästhetik: Begriffe werden im Geist aktiviert, klingen ab, aber nicht ohne andere Begriffe zu stimulieren. Nun kann man sich einbilden, und das wird der faszinierte Textgalaxien- Pilot stets tun, dass der Charakter des „Story Line“-Knäuels, also die digitale Handschrift eines Autors, Auskunft über sein Werk gibt. Bei Poes atmosphärisch sehr dichtem „Fall Of The House of Usher“ bleiben die Krakel kompakt, winden sich schnörkelig durchs Oval, um schließlich bei 12 Uhr anzukommen; Carrolls anarchische „Alice“ schlägt von Beginn an heftig aus und dringt in fast alle Bereiche des Ovals vor: Jedes Wort ist hier möglich, jederzeit. Der Tacho im Lektüre-Cockpit zeigt 360 Grad. CHRISTIAN KORTMANN ------------------------------------------------------- rohrpost - deutschsprachige Liste zur Kultur digitaler Medien und Netze Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost http://post.openoffice.de/pipermail/rohrpost/ Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de/cgi-bin/mailman/listinfo/rohrpost/