sebastian on Tue, 22 Jan 2002 17:06:16 +0100 (CET)


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[rohrpost] Die Nomaden des Kapitals


/*
     Aus Starship #5 Frühling 2002 <star-ship.org>. Siehe auch "deleuze.net not
     found" <amsterdam.nettime.org/Lists-Archives/rohrpost-0201/msg00000.html>
*/


Die Nomaden des Kapitals

Einführung in den Abschied von den Umherschweifenden Produzenten<1>

Von Sebastian Lütgert


Der "Umherschweifende Produzent"<2> ist in den 90er Jahren zu einer der
populärsten linken Heldengestalten geworden und gilt noch heute als ein
brauchbares Modell für die Subversion "beschleunigten" Lebens und
"immaterialisierter" Arbeit im "globalisierten" Kapitalismus. Was dieser Figur
ihren vermeintlichen Glamour verleiht, ist neben ihrem Bekenntnis, noch heute
Kommunist zu sein, vor allem die diffuse Aura ihres Bewegungsbegriffs,
demzufolge es sich beim Umherschweifen um ein selbstbestimmt-nichtlineares
Gleiten durch die Strata des sozialen Raums handelt. Diese Bewegung beruft sich
weniger auf Debords Theorie des "dérive"<3>, die ein Driften im Urbanen
beschreibt, das gerade die Zurückweisung jeder Arbeit zum Ausgangspunkt hat, als
vielmehr auf Deleuze/Guattaris Konzept der "déterritorialisation"<4>, das sich
eher gegen die Gravitationskraft geschlossener Räume wendet als gegen das
Prinzip der Produktivität. Ganz im Gegenteil: dieses Umherschweifen
"funktioniert", stellt ständig neue Netze von Zusammenhängen her und arbeitet
dabei mit Verknüpfungsoperationen, die sich von der territorialen Logik (von der
die situationistische Psychogeographie sich noch explizit treiben liess)
weitgehend verabschiedet haben. Und so besteht die begriffliche Praxis des
Umherschweifenden Produzenten vor allem in der bei jeder Gelegenheit so oder
ähnlich wiederholten Behauptung, er gleite auf nomadische Weise auf den Plateaus
und Fluchtlinien eines rhizomatischen Kapitalismus entlang - und das ist nicht
nur dumm, sondern auch gefährlich.

Nun geht es weder darum, eine Theoriepolizei zu installieren, die die korrekte
Verwendung von Begriffen kontrolliert, noch darum, die Konzeption von Büchern
als Wergzeugkästen zu diskretidieren; eher ginge es um die Kritik jenes linken
Mythos, der besagt, Werkzeuge müssten partout gegen die Gebrauchsanweisung
benutzt werden. In bestimmten Zusammenhängen können bestimmte Begriffe sich als
unbrauchbar oder sogar kontraproduktiv erweisen, und um das zu verhindern, lohnt
es sich oft, die sie umgebenden Texte zumindest kurz zu überfliegen, könnten
diese doch wichtige Hinweise zur jeweiligen Verwendung enthalten. "Jedes
Werkzeug ist eine Waffe", heisst das halbgelesene Eingangszitat von Empire. Mag
sein, dass ich flüchte, denn erst ganzgelesen wird daraus: "Jedes Werkzeug ist
eine Waffe, wenn du es richtig hältst."<5>

Zu den Gefahren der in den 90ern so beliebten deleuzianischen Heimwerkerei zählt
aber nicht nur der "falsche" Einsatz der "richtigen" Tools, sondern auch das
Phänomen der Materialermüdung. Tatsächlich hat ein Grossteil jener starren
Strukturen, zu deren Demontage die in den 70ern von Deleuze/Guattari entworfenen
Konzepte gedacht waren, mittlerweile unter dem Druck völlig entgegengesetzter
Kräfte nachgegeben, zu deren ideologischen Vektoren (das Kapital kennt kein
Vaterland, die Produktion keine Grenzen und der Markt seine Minderheiten) die
längst zu Trampelpfaden breitgetretenen Fluchtlinien der Schizopolitik heute
weitgehend parallel und richtungsgleich verlaufen. Insbesondere die digitale
Revolution schafft mitunter sehr seltsame Bettgenossen.

Die folgende Typologie Umherschweifender Produzenten erhebt keinerlei Anspruch
auf Vollständigkeit. Es fehlt nicht nur der Schizophrene Student (das
Grundstadium fast aller Neodeleuzianer), der Parasitäre Poptheoretiker (ein
spezifisch deutsches Phänomen) und der Internationale Internetkünstler (der als
Kategorie schon wieder im Verschwinden begriffen ist); es fehlt auch eine
Antwort auf die Frage, ob es sich bei den Umherschweifenden Produzenten
notwendigerweise und ausschliesslich um jene weissen, westlichen Männer handelt,
auf die diese Typologie sich beschränkt. Dieser Umstand wird im Folgenden nicht
mehr explizit benannt; und doch liegt, wer sich den Umherschweifenden
Produzenten als jungen Mann mit Laptop vorstellt, sicher nicht ganz falsch.


I. Der Nomadische Netzwerker

Der Nomadische Netzwerker<6> wirft zwei fundamentale Probleme auf: eins ist der
Nomade, eins ist das Netzwerk. Der Legende nach ist er eine Gestalt, die auf
verschlungenen Pfaden durch die elektronischen Netze wandert, an deren
Knotenpunkten ganz nach Belieben Verbindungen herstellt oder trennt und von
jeder physischen Territorialiät befreit per Telefon, Kabel und Satellit von
Kontinent zu Kontinent driftet. Als mythischer Held des Digitalen mag er eine
entfernte Verwandtschaft mit der Figur des Data Dandy<7> aufweisen, doch während
letzterer sich explizit auf Punk - also auf einen Materialismus - berief, hat
der Nomadische Netzwerker seine Luftwurzeln in der Hippiebewegung. Was ihn durch
die Gegend treibt, sind nicht die Dinge, sondern Fragen des Bewusstseins. Er
sammelt keine Objekte, er errichtet keine Systeme, und er teilt auch nicht den
Hang des Data Dandys zum Narzissmus, denn in seiner Welt gibt es keine Spiegel,
sondern nur das endlose Gleiten entlang der nichtreflektierenden Oberflächen
halbtransparenter Hardware und milchverglaster Sozialmilieus.

Das Lieblingsnetzwerk des Nomadischen Netzwerkers ist natürlich das Internet.
Doch selbst wenn, laut Foucault, das gesamte vergangene Jahrhundert eines Tages
deleuzianisch gewesen sein wird, bleibt das Internet so deleuzianisch wie ein
Kropf. Schon im Goldenen Zeitalter der Netzkritik, jenem "Kurzen Sommer des
Internet"<8>, als die entsprechenden buzzwords überreif von den Bäumen hingen,
war die euphorische These von den graswurzelhaft-subversiven Mikropolitiken des
World Wide Web bestenfalls aus der Luft gegriffen. Mittlerweile hat sich
gezeigt, dass keine dieser Applikationen wirklich funktioniert: Auf die
Deleuzianer des Digitalen, die bis früh in den Morgen verkehrtgeschlechtlich in
den Chatrooms herumhingen, wartete weder das Frau-Werden noch das Ende ihrer
vermeintlichen Körper; in den labyrinthischen Gärten der Hypertext-Archive wuchs
kein neues Lesen, Schreiben oder Denken heran; und niemandem ist es gelungen,
sich durch das Internet zu deterritorialisieren. Wir sind alle noch hier.

Das Netzwerk ist kein Rhizom, sondern viel eher, und zwar wörtlich,
"Netzarbeit": die neue Organisationsform der Produktion in den
Kontrollgesellschaften. Das Internet ist heute auf dem besten Weg, sämtliche
neuen Formen elektronischer Arbeit und Freizeit restlos miteinander zu verbinden
und computerisierte Freude, Verschwendung, Knappheit, Sklaverei und Paranoia zu
einem weltweiten 24stündigen Arbeitstag zusammenzusetzen: zu jenem digitalen
Kontinuum, das vielen von uns bereits mehr oder weniger vertraut ist als die
sich vollendende Einheit von Spass und Terror der Neuen Ökonomie. Jedes
induviduelle Leben im Netz ist eine digitalisierte, kapitalistische Mini-Krise,
ein Desaster, das deine IP-Nummer trägt. Oder, um Netscape Messenger zu
zitieren: "Sie haben 247 neue Mails."

Das zweite Problem ist der Nomade, also das romantische Konzept einer Bewegung
ohne Richtung, ohne Ziel, ohne Grenze und ohne Widerstand. Denn entgegen der
landläufigen Überzeugung handelt es sich bei den Nomaden gerade um jene Leute,
die bis zuletzt versuchen werden, zu bleiben wo sie sind (und selbst in den
Tausend Plateaus wird auf diesen Umstand mehrfach expizit hingewiesen<9>), die
sich nur im äussersten Notfall von der Stelle bewegen, und denen angesichts der
drohenden Segmentierungen ihres lokalen Territoriums jeder Gedanke an das
Gleiten auf globalen Oberflächen fremd ist. Das nomadische Konzept des Raums ist
das genaue Gegenteil dessen, was wir gemeinhin als "Mobilität" bezeichnen, und
es ist schwer zu begreifen, wie man das eine mit dem anderen fortwährend
verwechseln kann.

Im Falle des Nomadischen Netzwerkers ist die Lage allerdings noch ernster,
beharrt er doch auch noch auf dem obszönen Irrglauben, ausgerechnet sein Hang
zum Surfen auf den elektronischen Wellen der digitalen Netze qualifiziere ihn
als Nomaden. Nichts liegt ihm ferner als die Idee, dass der Nomade gerade
deshalb Wüsten und Steppen bewohnt, weil er dort, wenn überhaupt, am langsamsten
vorankommt, und die Eigenheiten des Geländes ihn zudem davor bewahren, von den
Protagonisten der neuen (vom späten Deleuze zurecht als genuin
kontrollgesellschaftlich gedissten<10>) Sportarten - Springern, Gleitern und
eben Surfern - heimgesucht zu werden.

Die Bewohner der Wüsten sind schlecht vorbereitet auf das Regime von roaming und
production. Wer den Nomaden angreift, wird erleben, wie er sich bewegt, und wer
den Nomaden in ein Flugzeug steckt, wird sogar erleben, wie er reist. Doch
selbst dann noch wird der Nomade es ablehnen zu surfen, und wer ihn über dem
Ozean abwirft, wird bloss mit ansehen können, wie er untergeht. Ein Blick in die
Geschichte zeigt, dass der Nomade zwar immer wieder auf unvorhergesehene Weise
von seinen zahlreichen Feinden in die Flucht geschlagen, nie zuvor jedoch so
schlamlos durch die Gegend gezerrt wurde wie in den Deleuzianischen 90ern des
Internet, deren Ende noch immer nicht in Sicht ist, so dass man den Nomaden auch
weiterhin vor allem vor seinen Freunden in Schutz nehmen muss.


II. Der Rhizomatische Risikokapitalist

Die mentale Landkarte des Rhizomatischen Risikokapitalisten<11> ist bereits 1995
von Richard Barbrook und Andy Cameron in ihrem gleichermassen schönen wie
grundsätzlichen Aufsatz "The Californian Ideology"<12> nachgezeichnet worden.
Dort beschreiben sie nicht nur das bizarre theoretische Patchwork, auf dessen
Grundlage diese Figur schon bald die diskursive Vorherrschaft im Internet
übernehmen sollte, sondern verfolgen auch die kulturellen Herkunftslinien der
neuen unternehmerischen Strategien und Tugenden zurück, die bis heute die
Managementseminare beherrschen. Der Rhizomatische Risikokapitalist ist Slacker
und Techno-Optimist zugleich: ein direkter Nachfahre der Hippies der
amerikanischen Westküste, deren Vorstellung von Liberalismus sich seit den 60ern
von der Utopie einer radikal befreiten Gesellschaft in die Feier eines radikal
befreiten Marktes verwandelt hat und noch vor zwei Jahren nicht selten in der
mittlerweile widerrufenen Prophezeihung gipfelte, beim Boom des Nasdaq handele
es sich um die Vorstufe des Cyber-Kommunismus.

Was dem Rhizomatischen Risikokapitalisten an Deleuze so gut gefällt, ist neben
der grob verkürzten These, die Funktion des Kapitals bestehe hauptsächlich
darin, fortwährend Grenzen zu verschieben und niederzureissen, insbesondere der
(bei Deleuze vor allem von Nietzsche her in den Text strömende) Vitalismus, der
sich in Richtung einer biologistischen Über-Metaphorik verschieben lässt, in
deren Begriffen fortan das Funktionieren ökonomischer und sozialer Systeme
beschrieben werden soll. In Reinform lässt sich dieses Denken in "Out of
Control"<13>, dem Hauptwerk des ehemaligen Wired-Herausgebers Kevin Kelly,
bestaunen. Der nämlich erklärt kurzerhand das Kapital zur Natur, den
Kapitalismus zur Biosphäre und das Zirkulieren von Geld, Menschen und Ideen um
den Globus zum natürlichen Flottieren von Schwärmen, Herden und Wellen im
organischen Ganzen eines ökologisch selbstregulierten Freien Marktes - mit dem
Treppenwitz, dass noch das Platzen der "Spekulationsblase" sich als finale
Ankunft des organlosen Körpers deuten lässt.

Der Rhizomatische Risikokapitalist ist aber nicht nur Deleuzianer, sondern vor
allem Darwinist, und so setzen sich in seiner Welt nur die besten Ideen durch,
und nur wer an denen die Rechte besitzt, kommt zum einem Teil des Geldes. Doch
weil er weiss, dass allein die grenzenlose Weisheit des Kapitals über Erfolg und
Misserfolg entscheidet, kann er sich zurücklehnen und das Funktionieren der
planetaren Marktmaschine geniessen. "Change is Good"<14>, hat Wired 1998
getitelt, und zwar, weil diese Formen von Veränderung niemand mehr diskutieren,
infragestellen oder rechtfertigen muss, denn hier verändert die Welt sich nicht
mehr aufgrund der Interessen bestimmter Akteure, sondern ganz von allein. Und
die Killerapplikation, um es mit Wired zu sagen, ist natürlich der hyperkomplexe
Netzwerkroboter, der sich selbst reparieren kann: der globale Kapitalismus.

Selbstverständlich gibt es noch eine Fülle von Unterkategorien des
Rhizomatischen Risikokapitalisten, allen voran der Pragmatische Praktikant<15>,
mit dem sich vor allem die Zeitschrift The Baffler<16> sehr gründlich
beschäftigt hat. Der Pragmatische Praktikant glaubt an die Ökonomie des
Geschenks und der Aufmerksamkeit und damit an den praktischen Nutzen unbezahlter
Arbeit. So bewegt er sich von Praktikum zu Praktikum, ist heute ein Künstler,
morgen ein Programmierer, übermorgen ein Tourist und nächste Woche
Geschäftsführer seines eigenen Unternehmens, fest davon überzeugt, in diesem
Umherschweifen durch die Sphären der Produktion käme einzig und allein sein
eigener Nonkonformismus zum Ausdruck. Der Gedanke, dass seine Subjektivität von
denselben Kräften strukturiert sein könnte, die auch die Neue Ökonomie, die ihn
umgibt, am Laufen halten, ist ihm genauso fremd wie die Idee, dass auch eine
deregulierte Arbeitswelt noch Gegenüber kennt, gegen die es sich zu organisieren
möglich bleibt.

Schliesslich dürfte sogar das Modell der Kommunikationsguerrilla Teil des
Rhizomatischen Risikokapitalismus sein, arbeitet diese doch mit ähnlichem
Enthusiasmus auf demselben Feld von Netzwerkökonomie und Zielgruppenkapitalismus
und teilt jede seiner spezifischen Blindheiten. Was die Kommunikationsguerrilla
sich von Deleuze borgt, ist insbesondere die vage Vorstellung, der Kapitalismus
sei nicht zuletzt oder gar vor allem ein Zeichensystem, und im Zentrum ihres
theoretischen Ansatzes steht nicht viel mehr als die völlig unbegründete
Hoffnung, dieses System geriete ins Wanken, wenn man nur ein paar seiner
tragenden Signifikanten zum Fliessen brächte. In erster Linie aber ist der
Begriff der Kommunikationsguerrilla eine permanente Beleidigung der realen
Guerrillas, auf die er rekurriert, da er von den realen Kriegen, die diese
geführt haben, und den realen Gegnern, die ihnen gegenüberstanden, bloss noch
den symbolischen Mehrwert übrig lässt. Wenn die tatsächlichen Guerrillas eine
Entsprechung im "Virtuellen" haben, dann sind das sicher keine Gruppen, die von
morgens bis abends kommunizieren und gegenkommunizieren, und wenn der
vielzitierte info war tatsächlich stattfindet, dann ist das der Krieg gegen die
Information als solche - ein Krieg, der kaum erst begonnen und gewiss noch keine
Genealogie heldenhafter Anführer hervorgebracht hat (die zudem, wenn sie denn
eines Tages erscheint, sicher nicht als Ausstellungskatalog veröffentlicht
werden wird).


III. Der Eingeflogene Experte

Der Eingeflogene Experte<17>, Speerspitze einer kritischen Avantgarde
vielfliegender Akademiker, die die Business-Lounges unseres Planeten bevölkert,
ist vermutlich das traurigste Exemplar all dieser Umherschweifenden Produzenten.
Seine Bewegung im Raum ist die endlose Reise von Kongress zu Kongress: Man
trifft ihn auf einem Dachgarten in Istanbul, tags darauf auf der Suche nach
amerikanischen Zeitschriften in einer Buchhandlung in Venedig, und eine Woche
später im exotischen Ambiente einer Dinner-Party in den Hügeln von Rio de
Janeiro.

Der Eingeflogene Experte ist ein entschiedener Kritiker jenes Phänomens, das er
als Globalisierung bezeichnet, und zugleich einer ihrer prominentesten
Vertreter. Sein Blick auf die globalen Metropolen ist die halbvertikale
Perspektive des landenden Passagiers, die Aussicht auf die schlecht
zusammengesetzte, elektrisch beleuchtete Karte der Stadt und das wie die Credits
eines Spielfilms unter ihm ins Bild rollende suburbane Raster. Dieser Blick hat
etwas Beunruhigt-Verstörtes, denn natürlich startet, fliegt und landet der
Eingeflogene Experte nicht wirklich gern, und letzteres schlägt ihm schon
deshalb auf den Magen, weil er ja bereits eine Vorahnung davon hat, was ihn am
Boden erwartet. Hat er nämlich erst einmal festen Grund unter den Füssen, wird
er Teil eben jener Klasse, für deren Feind er sich hält: einer Elite globaler
Vielflieger, die im Verlauf der letzten zwanzig Jahre zahllose Städte von Zonen
urbanen Lebens in blosse Interfaces für transkontinentale Geschäftsreisende
verwandelt hat.

Einem weit verbreiteten Glauben zufolge handelt es sich bei internationalen
Kongressen um Orte lebendiger theoretischer Auseinandersetzung, was mit der
Realität allerdings nur wenig zu tun hat. Fast nirgendwo gibt es ein lokales
Publikum, abgesehen von den offensichtlichen Journalisten, von denen ein bis
zwei genügen, um eine öffentliche Diskussion in eine Pressekonferenz zu
verwandeln, und denen sogar betretenes Schweigen meist noch zu einer fruchtbaren
Debatte umzulügen gelingt. Im besten Fall ist der Eingeflogene Experte unter
sich. Das heisst, er hat sich zu horrenden Preisen um den halben Globus
transportieren lassen, um Ideen vorzustellen, die ihm lange vorher zu Hause
eingefallen sind, und sich dann Ideen anderer Eingeflogener Experten anzuhören,
die ihm meist nicht nur bereits bekannt sind, sondern längst zum Halse
heraushängen, handelt es sich doch nicht um die erste Konferenz, zu der man
gemeinsam eingeladen worden ist. Dann müssen alle sehr schnell zum Flughafen,
und anstelle einer Diskussion findet bloss eine hastige Verabschiedung statt:
"Schön dich gesehen zu haben!" - "Ja, haben wir uns nicht letztes Jahr in
Helsinki getroffen?" - "Nein, die hatten mich zwar eingeladen, aber ich konnte
nicht kommen."

Internationale Kongresse sind Theoriemessen, und die generelle Abwesenheit eines
auch nur irgendwie theoretischen Interesses sagt eine Menge über den Stand der
Dinge im Kongressgeschäft. Was sich dort präsentiert, ist immer häufiger eine
globale DJ-Culture des Denkens - ein Denken, das in entsprechend loungigem
Ambiente vor allem um die Frage kreist, wie schön es ist, dass es sich überall
zu Hause fühlt. Der Sinn solcher Kongresse liegt in ihrer Funktion als Event,
das heisst als Kulminationspunkt des Stadtmarketings. (So auch die Konferenz,
anlässlich derer dieser Text enstanden ist, und die ansonsten natürlich eine der
gleichermassen raren wie wunderbaren Ausnahmen darstellt. Die Stadt München
braucht so dringend einen internationalen Internetkongress, dass sie sogar
bereit ist, einen über Migration und offene Grenzen zu bezahlen, was paradox
erscheinen mag, vom Standpunkt des Stadtmarketings aus aber immer noch Sinn
macht. Hunderte von Leuten in Flugzeugen sind Tourismus, und es kommt nicht
darauf an, ob sie kritische Ideen im Handgepäck haben oder nicht.)

Natürlich gefällt dem Eingeflogenen Experten dies alles ganz und gar nicht. Wenn
er das Podium betritt, ist er gestresst, gejetlagged und unkonzentriert, und
häufigt kommt es vor, dass er sich unterwegs auch noch eine seltene Krankheit
eingefangen hat. Eine der hellsichtigsten Äusserungen des späten Deleuze ist in
diesem Zusammenhang die Feststellung, dass das stundenlange Eingesperrtsein in
modernen Zügen und Flugzeugen eine unerträgliche Erfahrung ist.<18> Und wer
Deleuze nicht glaubt, möge eine Rockband über ihre letzte Tournee befragen, um
zu begreifen, dass Reisen Teil des Problems und nicht Teil der Lösung ist. Der
Eingeflogene Experte weiss das nur zu genau, aber er kann nicht entkommen: er
ist bereits für die kommende Woche in Sao Paulo gebucht, muss von dort direkt zu
einem Antiglobalisierungs-Treffen nach Brüssel, um im Anschluss seine Kritik
spektakulärer Simulationen des Urbanen in Kuala Lumpur zu präsentieren.

Der Eingeflogene Experte ist vermutlich Grenze und Ende all dieser
Umherschweifenden Produzenten, denn er ist selbstreflexiv und doch in einem
geschlossenen Kreislauf gefangen. Theorien des Raumes gedeihen schlecht in
Schalterhallen, Transitbereichen und Nichtraucherzonen, und Theorien der Zeit
pflegen zu misslingen, wenn gerade Zeit von vornherein schon überzogen oder
abgelaufen ist. Am Ende wird aus dem Eingeflogenen Experten der
Pauschaltouristische Panelist, der in einem Zustand permanenten Konsums - einem
Raum-Zeit-Kontinuum namens Restaurant-Taxi-Hotel - vollständig eingeschlossen
ist. In seinem Endstadium gerät er in einen Zustand, der sich nicht einmal mit
dem Schlusskapitel der Tausend Plateaus mehr erklären, geschweige denn
rechtfertigen lässt. Und so ist der Eingeflogene Experte möglicherweise gar kein
Deleuze-Guattarianer mehr, sondern vielleicht längst ein Negri-Hardist, vor
dessen Augen sich an jedem Ort der Welt nur noch die Totalität des Empire
materialisiert.


* * *

So oder ähnlich sieht sie also aus, die angebliche Leichtigkeit und Freude, noch
heute Kommunist zu sein. Und doch geht der grundlegende Einwand gegen den
Umherschweifenden Produzenten über den blossen Vorwurf, dass er als fashion
victim linker Theorie selbst in weniger grobgemusterten Stoffen noch die
unvermeidlichen Platitüden findet und nach aussen kehrt, weit hinaus. Denn die
Verheerungen, die er auf dem Feld der Bewegungslehre anrichtet, sind ja nicht
etwa ideologischer, sondern ganz und gar praktischer Natur.

Der Umherschweifende Produzent ist eine Figur, in der sich die Verhältnisse, die
sie zu subvertieren glaubt, erst realisieren. Was er an jedem Ort, an dem er
innehält, einführt und etabliert, ist nicht nur das Regime der Produktion, in
dessen Kritik die meisten von uns geübt sind, sondern auch das Regime des
Umherschweifens, das von freiwiller Reiserei über halb-freiwillige Zeitarbeit
bis zu nicht-freiwilliger Migration reicht und das nachzuzeichnen wir erst noch
lernen müssen. Wer die Romantisierung der Freiheiten des Freelancer-Daseins
ablehnt, der sollte auch jede Nostalgie für nomadische Flüchtlinge begraben.

Denn der Kampf für freedom of movement, an dem der Umherschweifende Produzent
sich beteiligt glaubt, hat keinen Begriff von Bewegungsfreiheit, wenn diese
nicht die Freiheit einschliesst, jede Bewegung zu verweigern und an einem
beliebiegen Ort für eine beliebig lange Zeit auch zu bleiben. Genausowenig ist
er Teil des Kampfes für die Migrierenden und deren Migrationen, wenn das allein
der Kampf für die Beseitigung der letzten Barrieren sein soll, die auch heute
noch die Leute daran hindern, in perfekter Kongruenz mit den Fluchtlinien des
Kapitals um den Globus zu zirkulieren. Selbst wenn die Grenzen des Kapitalismus
gegen Null gehen, bleibt ein Begehren, das völlig andere Räume und Bewegungen
besetzt.

Eine dieser Bewegungen ist überhaupt keine Bewegung, und die hat, auch wenn sie
ihren Ort hält, weder eine Heimat zu verteidigen noch auch nur irgendeine
Affinität zur Ökonomie der Regionalpartnerschaften und Familienbetriebe, die
rechte wie linke Kritiker der "Globalisierung" heute wieder als
antikapitalistisches Gegenmodell stark machen - als wären Region und Familie
nicht gerade jene Modi des Zuhausebleibens, in denen sich die
deterritorialisierenden (und damit zwangsläufig zugleich
reterritorialisierenden) Kräfte des Neoliberalismus erst verwirklichen. Die
Bewegung, die keine Bewegung ist, wäre die Bewegung all jener, deren Antwort auf
den kategorischen Imperativ des globalen Kapitals und seiner Gegner, mobil zu
bleiben und sich unter Gleichen zu vernetzen, auch weiterhin lautet: Ich möchte
lieber nicht.


Anmerkungen

1. Aus dem Englischen <noborder.org/webjournal/sun_item.php?id=34> übersetzter
und erweiterter Vortrag <195.88.128.119:8080/ramgen/muffat/mw/c7/c7.smi>,
gehalten auf dem Kongress "make world - border=0 location=yes" <make-world.org>
im Oktober 2001 in München. Eine weitere Version erscheint im Januar 2002 in der
Zeitschrift Subtropen <jungle-world.com/_2002/02/sub06a.htm>

2. Thomas Atzert (Hg.), Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und
Subversion, Berlin [ID-Verlag] 1998 <txt.de/id-verlag/books/Produzenten.htm>

3. Guy Debord, Théorie de la dérive, in: Internationale Situationniste #2, Paris
1958 <textz.com/index.php3?text=debord+la+derive>

4. Gilles Deleuze / Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie
I, Frankfurt [Suhrkamp] 1977

5. Michael Hardt / Antonio Negri, Empire, Cambridge / London [Harvard University
Press] 2000 <textz.com/index.php3?text=hardt+negri+empire>

6. im Original: The Networking Nomad

7. Agentur Bilwet, Der Datendandy, Bensheim [Bollmann] 1994
<textz.com/index.php3?text=bilwet+datendandy>

8. <google.com/search?q=%22the+short+summer+of+the+internet%22>

9. Gilles Deleuze / Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und
Schizophrenie, Berlin [Merve] 1992, S. 524

10. Gilles Deleuze, Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in:
Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt am Main [Suhrkamp] 1993
<textz.com/index.php3?text=deleuze+postskriptum>

11. im Original: The Ecstatic Entrepreneur

12. Richard Barbrook / Andy Cameron, The Californian Ideology, London 1995
<textz.com/index.php3?text=californian+ideology>

13. Kevin Kelly, Out of Control. The New Biology of Machines, Social Systems and
the Economic World, London [Fourth Estate] 1994
<textz.com/index.php3?text=kelly+control>

14. Change is Good, Wired 6.01, San Francisco 1998
<wired.com/wired/archive/6.01>

15. im Original: The Flexible Freelancer

16. Interns Built the Pyramids, The Baffler #9, Chicago 1997 <thebaffler.com>

17. im Original: The Travelling Theorist

18. Gilles Deleuze, V comme voyage, in: L'Abécédaire de Gilles Deleuze, Paris
[Vidéo Editions Montparnasse] 1996


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