Krystian Woznicki on Tue, 8 Jan 2002 23:29:20 +0100 (CET)


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[rohrpost] Berliner Gazette, 09.01. [wir]


Der 11.September ist post-medial
oder: >>Hat die Al Qaeda wirksame Oeffentlichkeitsarbeit geleistet?<<

[ ] Antwort: Geert Lovink [1], Medientheoretiker [2]

Al Qaeda hat nie eine besonders ausgepraegte Medienstrategie gehabt!
Bezeichnend dafuer ist, dass es kaum einen Dialog zwischen dem Westen und
der globalen islamischen Intelligenz gibt. Zudem ist es interessant zu
beobachten, dass die Konflikte aus den letzten Jahren kein >infowar<
Element haben. Die Sicherheitsmassnahmen in diesem Bereich basieren also
nicht auf aktuellen Geschehnissen, sondern auf einer kollektiven Paranoia.
Der richtige Infokrieg wird von 15-Jaehrigen script kiddies gefuehrt, die
Virenprogramme fuer lausige Microsoftprodukte schreiben.

Der befuerchtete Cyberjihad bleibt also erstmal aus. Das ist aber nicht auf
Technikfeindlichkeit oder Technophobia zurueckzufuehren. Medienkompetenz
ist weltweit verbreitet [3]. Das gilt fuer Technologie allgemein. Alle
fahren Auto, bedienen Computer, schreiben gar Programmcode oder bauen
Nuklearwaffen. Das heisst aber noch lange nicht, dass sie Zugang zu den
westlichen Kommunikations- und Machtsystemen haben - oder sich das
wuenschen. Islamische Fundamentalisten wie Usama Bin Laden zielen nicht auf
Weltherrschaft ab. Sie sind nicht daran interessiert, was wir denken oder
behaupten.

Was viele Fundamentalisten sich wuenschen, ist Abschottung von der
westlichen Welt. Das gilt auch fuer manche Christenfundamentalisten. Es ist
eine defensive und zugleich aggressive Geste. Dabei geht es erstmal nicht
um die Frage, ob Codan-Radios oder VHS-Recorder Boese seien. Die
Technologien, egal welche, werden skrupellos als Werkzeuge eingesetzt. Das
empoert uns, die Strukturalisten und Technomaterialisten besonders, weil
wir immer der Meinung sind, dass die Benutzung der Medien eine gewisse Aura
erzeugt, so genannte Nebeneffekte: Die Idee ist, dass der Computer an sich
ein Weltbild mit sich bringt. Diese Annahme wird erstmal radikal in Frage
gestellt.

Vor diesem Hintergrund laesst sich Al Qaedas Medienstrategie also als eine
komische Mischung aus Unterentwicklung und einem tiefen Kulturunterschied
in der Herstellung von medialen Oeffentlichkeiten begreifen.

Usama Bin Laden kommuniziert zwar mit seinen Leuten und sicherlich benutzt
er technische Medien [4]. Die von der Al Qaeda produzierten Videokassetten
sind jedoch nicht fuer die globalen Nachrichtenmedien bestimmt. Dieser
Unterschied ist schon wichtig. Al Qaeda, wie auch andere, vergleichbare
Organisationen, glauben einfach nicht mehr an die Strategie, die
Weltoeffentlichkeit ueberzeugen zu muessen. Sie spricht nur zu Glaeubigen,
vielleicht zu den Muslims weltweit, aber sogar darueber bin ich mir nicht ganz
sicher.

Das Gesetz aller politischer Aktionen lautet: Je realer, desto
symbolischer. Die Agentur Bilwet [5], der ich auch angehoere, hat sich dazu
1991 in der Bewegungslehre geaeussert. Im Akt der Sabotage zerstoert man
Reales (ein Fenster, ein Gebaeude usw.). Das gilt genau so gut fuer die
Ereignisse vom 11.September. Die Twin Towers wurden wegen ihrem Symbolwert
ausgewaehlt.

Der zerstoererische Akt selber ist hier die Medienstrategie, nicht die
ueblichen Pressekonferenzen, Websites, Videoclips und sonstiges
Werbematerial. Darin liegt der Unterschied zwischen Usama Bin Ladens Al
Qaeda und anderen Organisationen wie RAF, IRA oder ETA, die immer eine
Erklaerung abgeben und immer ihre Aktionen legitimieren und ihre
Forderungen stellen. Kurz: Obwohl die Anschlaege von N.Y. und Washington
einen enormen medialen Fallout haben, liegt der Kern der Sache jenseits der
herkoemmlichen Strategien zur Herstellung von Medienoeffentlicheit.

1. mailto:geert@xs4all.nl
2. http://www.laudanum.net/geert/
3. http://www.nettime.org
4. http://www.politechbot.com/p-02932.html
5. http://www.desk.org:8080/Desk/bilwet

Und hier, wie jede Woche, ein paar ausgewaehlte Veranstaltungshinweise fuer
die kommenden Tage:

Do - 10.01.

K i n o : Ueberwachung, so der New Yorker Kulturtheoretiker Thomas
Levin, >ist nichts Neues: (...) Immer staerker praegt Ueberwachung unseren
Alltag, und zwar in Ausformungen, die von den eher offensichtlichen
Videoueberwachungskameras (CCTV closed-circuit television) bis hin zu den
hinterhaeltigeren (weil weitgehend unsichtbaren) Varianten digitaler
Informationsdokumentation reichen, die heute unter dem Namen
Datenueberwachung (dataveillance) gelaeufig sind.< Der zunehmenden Praesenz
von Ueberwachungssystemen im Alltag widmet sich die Filmreihe Ueberwachen
und Aufzeichnen, die bis zum 6. Februar 2002 gezeigt wird. Das Programm
wurde im Zusammenhang mit der Ausstellung Ctrl [Space] - Rhetorik der
Ueberwachung von Bentham bis Big Brother des ZKM Karlsruhe konzipiert.
Zudem begleitet das Internetmagazin >Nach dem Film< Ausstellung und
Filmreihe mit seiner aktuellen Ausgabe: Video und Ueberwachung
[http://www.nachdemfilm.de]. Ort: Kino Arsenal [http://www.fdk-berlin.de],
Filmhaus am Potsdamer Platz, Potsdamer Str. 2, 19 Uhr.

Sa - 12.01.

V e r n i s s a g e : Wie Rebekka Ladewig beobachtet, produziert >>der
malerische Stil Lamsfuss´ [http://www.ulrichlamsfuss.de] Oberflaechen, auf
denen die Motive in der blossen Materialitaet des Mediums aufgehen. Durch
die stilistischen Effekte wirken die dargestellten Objekte nicht wichtiger
als der Raum zwischen den Objekten, dessen Flaechigkeit die unhierarchische
Komposition der Bilder hervorhebt. Die Behandlung von Licht und Schatten,
die Farbigkeit der Bilder, das weiche Nebeneinander im Farbauftrag und
nicht zuletzt die Wahl der Bildformate selbst sind Teil einer
Reproduktionsleistung, die nichts will als die Vergegenwaertigung des immer
schon Sichtbaren in seiner Abwesenheit. Die Uebertragung und Uebersetzung
vorhandener Bilder in Malerei folgt somit einem dekonstruktivistischen
Ansatz, der die referentielle Vorlage ebenso als Nicht-Urspruengliches
erkennt, wie das malerische Produkt selbst, das gelegentlich wieder und
wieder gemalt wird, um so den Charakter des Orignals abzuarbeiten.<< Ort:
Galerie Max Hetzler [http://www.max-hetzler.com], Zimmerstrasse 90/91, 20 Uhr.

Di - 15.01.

C h a t : Als vor mehr als zwei Jahren Globalisierungsgegner im Umfeld der
WTO-Konferenz in Seattle erfolgreich elektronischen Widerstand leisteten,
kam Naomi Kleins Buch >No Logo< auf den Markt und trat eine Bewegung los.
Anti-Konzern-Aktivismus bekam einen Namen und einen ueber den Zeitraum von
vier Jahren unabhaengig recherchierten Fuehrer, aus dem sich zahlreiche
Taktiken fuer den Kampf gegen die neuen Weltmaechte ableiten liessen:
Debranding und Adbusting sind heute noch immer in aller Munde, wenn es
heisst, die Ziele aller Hacktivisten auf korporativ gesteuerte Bilder und
Zeichen zu uebertragen. Doch sind die Strategien seit dem 11. September
auch fragwuerdig geworden. Um Ziele fuer das neue Jahr abzustecken, treffen
sich daher alle Markenaktivisten im Chat von Naomi Kleins Homepage, die
ueber die Zeit nicht zu letzt zu einer Fundgrube fuer Texte und Nachrichten
im weltweiten Kampf gegen die Machenschaften der Global Player geworden
ist. Ort: [http://www.nologo.org], 17 Uhr.

Bis naechste Woche,

Krystian Woznicki
mailto:krystian@snafu.de

PS: Eine Perle unter den Internet-Sites ist das Cyber-Newseum. Hier bekommt
man Fotos, Berichte und Filme aller Art zu vielen Themen, die die Welt
bewegen und bewegt haben. Ein Beispiel ist die vergangene Ausstellung der
National-Geographic-Fotografinnen mit Reportagen aus aller Welt. Oder eine
Sammlung von Pulitzer-Preistraegern, die starke Momente auf Foto-Papier
verewigt haben. Das Schoene: Man klickt ein Bild an und gleichzeitig
ertoent die Original-Stimme des Fotografen, um das Motiv zu beschreiben. So
tritt der Augenblick noch einmal direkt zu Tage, man kann den Ausloeser
klicken hoeren. Das Newseum hat einige spannende Reportagen gesammelt. So
unter anderem ein Special zur Berliner Mauer. Fotos, Augenzeugenberichte in
audio und alte RIAS-Clips bringen einen noch mal zurueck in die kalte Zeit
von Stacheldraht, Beton und uniformierter Autoritaet. Das Internet macht's
moeglich.

1. http://www.newseum.org/cybernewseum/index.htm

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