Florian Cramer on Mon, 29 Oct 2001 17:46:15 +0100 (CET) |
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[rohrpost] Quirinus Kuhlmann, XLI. Libes-kuß |
[Diesen Text habe ich back-to-back mit Inke Arns' Vortrag über die Performativität von Computercodes - siehe rohrpost vom 26.10. - auf der Konferenz "Kinetographien" referiert, die vom Institut für Slavistik der Humboldt Universität Berlin in der European Academy in Berlin-Grunewald veranstaltet wurde. Um Netzkunst geht es nur kurz im letzten Absatz, um ausführbaren Code jedoch von Anfang an. Nun frage ich mich, ob Dietmar Dath unserem Panel - oder einer Diskussion von Besuchern unseres Panels - gelauscht hat und in seiner heutigen FAZ-Feuilleton-Seite über die Schönheit von Codes eine Replik liefert, die an Friedrich Schlegels "Gespräch über die Poesie" erinnert: http://www.faz.de/IN/INtemplates/faznet/default.asp?tpl=faz/content.asp&rub={2D82590A-A70E-4F9C-BABB-B2161EE25365}&doc={D8DCA4A0-6F53-4C3C-A041-55ED02B4BDCC} Eine computerprogrammierte Version des XLI. Libes-kuß gibt es hier: http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/permutations/kuhlmann/41_libes_kuss.cgi -Florian] ........................................................................ Wechselsatz und Wechselrad in Quirinus Kuhlmanns ,,XLI. Libes-kuß`` Florian Cramer 25.10.2001 Daß Quirinus Kuhlmanns wortpermutatives Gedicht ,,XLI. Libes-kuß - Der Wechsel menschlicher Sachen`` den Status eines exzentrischen Klassikers der Sonettdichtung hat, belegt zum Beispiel Walter Mönchs Geschichte des Sonetts von 1955;1 außergewöhnlich ist es aber auch im weniger klassischen Kanon der sprachkombinatorischen Dichtung, weil es die ältere, schon aus der Spätantike und dem Mittelalter bekannte Form des wortpermutativen Proteusverses zum Proteussonett hypertrophiert und mit seinen 13! hoch 12 möglichen Schreib- oder Leseweisen alle anderen bekannten kombinatorischen Gedichte quantitativ weit hinter sich läßt (Raymond Queneaus Hunderttausend Milliarden Gedichte zum Beispiel um den Faktor 10 hoch 100). Ich möchte Ihnen in der Kürze der Zeit zeigen, wie dieser Text seine ,,Wechsel`` zugleich formal codiert und allegorisch konnotiert. Die Frage, der Inke Arns im Anschluß genauer nachgehen wird, in welchem Verhältnis nämlich Inskription und Selbstdeskription stehen und ob die Dynamik der sichtbaren Zeichen negativ die Statik einer Partitur impliziert, steht auch hier zu Debatte; virulent scheint sie mir bereits im Titel dieser Konferenz zu sein und der Doppeldeutigkeit von ,,Kinetographie`` als (a) bewegter Schrift und (b) Beschreibung von Bewegung. Der ,,XLI. Libes-kuß`` handelt von Bewegung im allgemeinsten Sinne, der Dynamik der Welt im Wechsel makro- und mikrokosmischer Dinge. Dies deutet der Titel ,,Vom Wechsel menschlicher Sachen`` an, schreibt sich fort im lateinischen Motto des Gedichts - ,,sed omnia quadam veluti rotâ circumvolvuntur`` (etc.) -, dem übrigens, qua seiner Hybridisierung eines von ihm ausgewiesenen Zitats des Kirchenvaters Gregor von Nazianz mit einem von ihm nicht ausgewiesenen Zitat aus Boethius' Consolatio, selbst ein Wechsel eingeschrieben ist. In den drei Quartetten, die jeweils dreizehn permutierbare einsilbige Wörter enthalten, wechselt dieser Wechsel von der Meta- zur Objektebene, zunächst durch den Strophenbau des Gedichts, der in der Mitte von romanischen Sonettform mit drei umschlingend gereimten Quartetten zur englischen mit Schlußcouplet wechselt; und offensichtlicher noch dadurch, daß die einsilbigen, permutierbaren Wörter selbst die Dinge des Makro- und Mikrokosmos evozieren, und, indem sie ihren Wechsel materiell in der Schrift vollziehen, den Kosmos durch den Text permutieren sowie den Text durch den Kosmos. Hier knüpft Kuhlmann, wie in anderen seiner Schriften noch expliziter, an die im 17. Jahrhundert kanonische deutsche Sprachlehre von Justus Georg Schottelius an, die einsilbige ,,Stammwörter`` als Elementarbestandteile der deutschen Sprache definiert, die ,,ihre Dinge eigentlich ausdrükken``, also Signifikanten nicht als arbiträr auffaßt, und sie dadurch definiert, ,,daß sie allerley Bindungen / Doppelungen und artige Zusammenfügungen leiten.``2. Von den Barockgelehrten und -dichtern Thomas Lansius, Johann Heinrich Alsted und Georg Philipp Harsdörffer übernimmt Kuhlmann nicht nur die Verschränkung der rhetorischen, in Julius Caesar Scaligers ,,Poetices`` kanonisierten Tradition des Wortwechselgedichts mit lullistischer ars combinatoria und christlicher Kabbalistik, sondern auch die Form des Doppelverses aus asyndetisch gereihten einsilbigen Wörtern - und schließlich sogar einen Teil des Wortmaterial, dessen ursprüngliche Anordnungen in einer weiteren kombinatorischen Operation teilweise konserviert, teilweise variiert und teilweise destruiert werden und so den intratextuellen mit einem intertextuellen Wortwechsel komplementiert, den Titel und Motto metatextuell kommentieren und den das Schlußcouplet durch eine semantische Wechselfigur der discordia concors oder coincidentia oppositorum vollzieht: Alles wechselt ; alles liebet ; alles scheint was zu hassen : Wer nur disem nach wird-denken / muß di Menschen Weißheit fassen. Diese discordia concors ist auch den Wortreihen eingeschrieben, wenn man sie nicht horizontal, sondern vertikal liest. Es korrespondieren jeweils die Wörter der ersten und zweiten sowie der dritten und vierten Quartettverse und kreieren somit ein Wechsel der Verspaare gegenüber dem umarmenden Reimschema. Dadurch, daß die vertikalen Wortpaarungen er ersten und dritten Strophe in antonymischer, die der zweiten Strophe jedoch in metonymischer Relation stehen, wird die zweite Strophe zur Symmetrieachse, die sich mit anderen Symmetrieachsen inkongruent überlagert, dem Gedicht also einen abermaligen ,,Wechsel`` einschreibt. Interessanterweise gibt es aber auch einen Meta-Wechsel des Gedichts zwischen Dynamik und Statik seiner Wechselwörter. Denn das Prinzip ihrer Permutierbarkeit unterläuft sich zugleich, weil durch jede Umstellung der Wörter ihre in der Ausgangsnotation komplex komponierten Paarungen und intertextuellen Bezüge zerstört werden. Einerseits behauptet das Gedicht, sich erst in seinen Permutierungen zu schreiben, andererseits suggeriert es, daß seine Ausgangsanordnung die beste ist. (Auch dies ein ,,Wechsel``.) Hinzu kommen ausführliche Kommentierungen des Gedichts in einem Nachwort sowie in der Parallelschrift ,,Teutscher Geschicht-Herold``, in der Kuhlmann seine Auseinandersetzung mit der von Athanasius Kircher tradierten lullischen Kombinatorik dokumentiert. Paradox ist zum Beispiel, wenn der Schlußvers vom kombinatorischen ,,fassen`` der ,,Menschen-Weißheit`` spricht und es im Nachwort heißt, in dem Sonett seien ,,wi in einem Klumpen / die Samkörnchen der Schluß- Red- Sitten- Weiß- Rechen- Erdmessungs- Thon- Stern- Artznei- Natur- Recht- Schrifft-weißheit verborgen``.3 Wenn dies so wäre, das Gedicht also rekursiv auch alles Wissen über sich selbst enthielte, bedürfte es ja nicht eben dieser Kommentierung. Entweder dekonstruiert hier sich die Weisheitkunst des Gedichts oder dessen Verfasser. Auch wenn seine Allweisheit nur eine rhetorisch simulierte wäre - so, wie der Metatext des Kommentars durch seine seitenfüllenden, in Wörtern ausgedrückten Zahlenreihen selbst wieder zu generativer Objektsprache wird -, könnte dies der Leser schon deshalb nicht widerlegen, weil die Permutationen des Texts von einem menschlichen Leser nicht mehr zu bewältigen sind. An seine Stelle tritt eine Maschine, die die Vorrede zum ,,Geschicht-Herold`` technisch skizziert. Mit Seitenhieb auf die Lullisten des 17. Jahrhunderts heißt es darin: Wiwol sie mit disem Schatten sich vergnügeten / war ich doch ni vergnüget / und erfand darüber ein Wechselrad / durch das mein Reim / der in einem Jahrhunderte ni ausgewechselt / inner etlichen Tagen völlig ausgewechselt / und sahe mit höchster Bestürtzung / wi di Wandelung dreizehenfächtig auf einmal geschahe. Vor war die Wechselung von dreizehen Wörtern / einem Menschen unversuchbar / nun nicht mehr. 4 Da dieses ,,Wechselrad`` dreizehn Wörter umstellt, ist es offenkundig eine Maschine zur Permutation von jeweils einem der zwölf Proteusverse des XLI. Libes-kuß. Der Prodomus, eine theoretische Schrift Kuhlmanns von 1674, nennt das ,,Wechselrad`` ein ,,rotam, tredecim circulos continentem``, das mit einer Umdrehung dreizehn Permutationen erzeugen könne. Beide Beschreibungen liefern hinreichende Information für eine technische Rekonstruktion des Apparats. Obwohl sie Vermutung anderer Kuhlmann-Philologen zu bestätigen scheint, das ,,Wechselrad`` sei ,,die bei Lull, Bruno, Harsdörffer und anderen schon beobachtete rotierende Kreisfigur``,5 unterscheidet sich das ,,Wechselrad`` durch seine Funktionsweise. Denn seinen Kreissektoren sollen Permutationen, nicht Kombinationen abgelesen werden. Also sind nur solche Stellungen der Räder gültig, die auf der vertikalen Achse eine echte - wiederholungsfreie - Permutation der auf den horizontalen Achsen eingetragenen Elemente ergeben. Kuhlmann nennt dies eine ,,neuerfundene Verkürzung``6, weil mit jeder Permutation simultan dreizehn verschiedene Permutationen auf der Vertikalachse angezeigt werden. An diesem Punkt ließe sich zeigen, daß das ,,Wechselrad`` mathematisch nicht leistet, was Kuhlmann von ihm behauptet, denn durch seine dreizehnfache Simultanversetzung verringert sich die Gesamtzahl der zu ermittelnden Permutationen lediglich von 13! auf 12!, d.h. von 6,2 Milliarden auf 479 Millionen. Das Wechselrad wird damit vom mathematischen zu einem rhetorischen Instrument und zum Prototyp der von Kuhlmann später skizzierten kombinatorischen, vorwegnehmenden ,,Ars magna librum scribendi``, ,,welche alles begreifet / was alle Menschen begreiffen / und durch einen gegeneinanderhaltungswechsel alles belehret / was belehret werden kont``.7 Wie diese ,,ars`` ist das Wechselrad nicht nur ein Schreib-, sondern auch ein Lesegerät, dessen generative Kapazität zugleich eine hermeneutische und intellektuelle Kapazität des ,,begreiffen`` ist. So, wie sich aber auch in den permutierenden Signifikanten des Gedichts syntaktischer und allegorischer Wechsel ineinander verblenden, ist auch das Wechselrad doppelt codiert. Sprichwörtlich ist vom Rad im eingangs zitierten Motto des Gedichts die Rede: ,,sed omnia quadam veluti rotâ circumvolvuntur``. Zwei klassische allegorische Topoi werden hier aufgenommen; erstens der Topos des Glücksrads, der auf eine Passage über die Wechselhaftigkeit der Welt in Boethius' ,,consolatio`` zurückgeht, zweitens der eng mit ihm verwandte, von Erasmus von Rotterdam geprägte Topos der ,,vicissitudo rerum``, der der Plautus-Dialogzeile ,,omnium rerum, heus, vicissitudo`` entnommen ist. Interessant ist hier ein Vergleich mit dem Schlußstich der Graphikserie ,,Omnium rerum vicissitudo est`` des Hendrik Goltzius-Schülers Jacques des Gheyn von 1596/97. Auf einer Erdkugel rotieren, im Uhrzeigersinn, Personifikationen der Fortuna, des Reichtums, des Hochmuts, des Krieges, der Armut, der Unterwürfigkeit und des Friedens, und beschreiben einen ewigen Zirkel des menschlichen Schicksals. Analog lautet die klassische Codierung des Glücksrads, seit dem Glücksrad von Monte Cassino (um 110), ,,Regno``, ,,Regnam ``, ,,Sum sine regno``, ,,Regnabo``. Es läßt sich zeigen, daß der XLI. Libeskuß ähnliche Abfolgen über die lullistische Systematik der Elementen, Tugenden und Sünden, sowie der Himmelsrichtungen, Elemente, Künste und Sinne konstruiert, darüber hinaus aber auch makrokosmische Universalien einbezieht, keinesfalls also nur menschliche Sachen wechselt. Dazu heißt es im Vorwort des Geschicht-Herold: Denn der Allmächtige Himmels- und Erdenschöpffer hat Himmel und Erden wi ein wechselrad eingerichtet / die Geschöpffe stat der wechselwörter genommen: Alle Weltdinge wechseln / alle liben / alle hassen8 Damit begibt sich das Gedicht auf heikles theurgisches Terrain. Seine Intertextualität schließt nicht nur, höchstwahrscheinlich, die Rosenkreuzer-,,Fama`` von 1614 ein, in der voni drei Büchern des ,,librum mundi ``, des ,,Proteus`` und der ,,rotae mundi`` die Rede ist, sondern vor allem auch die Sprüche Salomons, deren Konstruktion semantischer Gegensatzpaare und deren Wortmaterial der XLI. Libes-kuß übernimmt. Der, wie Kuhlmann schreibt, ,,Wechselsatz`` der Permutationswörter und das Wechselrad werden somit zu einem reverse engineering einer imaginären salomonischen Weisheitsmaschine. Um diesen Anspruch zu erfüllen, muß diese reverse engineering sowohl ein technisches, als auch ein allegorisches sein. Liest man es insgesamt als Allegorie, so sprengt es alle Begriffe der barocken Allegorie, weil seine Zuschreibungen eben nicht arbiträr sind, sondern sich anschaulich an und in ihm selbst vollziehen. Als, um Walter Benjamin zu zitieren, ,,Einheit von sinnlichem und übersinnlichem Gegenstand`` erfüllt es alle Kriterien des romantischen Symbols, was angesichts dessen, was man die manieristische-concettische Künstlichkeit und Rhetorizität des Gedichts nennen könnte, um so paradoxer erscheint. Wenn dieses Gedicht vielleicht die allgemeinste denkbare Reflexion des Wechsels im Medium der Poesie ist, so exemplifiziert es auch die ganze Doppeldeutigkeit von ,,Kinetographie`` als bewegter Schrift und Beschreibung dieser Bewegung; als simultaner Quellcode und Ausführung von Quellcode, Grammatik und Sprachspiel, Meta- und Objektsprache. Einerseits differenziert der Text diese Ebenen, indem er sich mal als Motto, mal als Permutationsreihe, Resümee oder kommentierende Partitur notiert, als Sonett und als Wechselrad, andererseits kontaminiert er sie, indem er jede von ihnen allegorisiert. Diese Schutzverletzung des Codes könnte, so möchte ich vorschlagen, die Differenz benennen, die poetischer Sprache auch dann noch kennzeichnet, wenn sie innerhalb formaler Sprachen der Kombinatorik und Algorithmik notiert ist, wie zum Beispiel in der Computer-Codepoesie der Netzkunst und mit ihr verbundenen Autoren wie jodi, mez, Alan Sondheim und Ted Warnell. In ihr findet ein doppelter Übersetzungsprozeß statt: Von natürlicher (nichtformaler) Sprache in formale Sprache zurück in natürliche Sprachen. Der ,,Verlust von Inskription `` ist somit kein Merkmal algorithmischer Zeichenprozessoren und der mit ihnen codierten Medien, sondern die alte Poetizität und Einbildungskraft der Sprache, durch die jeder Code zum selbstmodifizierenden, paradoxen Absturzcode wird. Literatur [Kuh71] Kuhlmann, Quirinus: Himmlische Libes=küsse . Jena : ?, 1671 [Kuh73] Kuhlmann, Quirinus: Lehrreicher Geschicht=Herold . Jena : ?, 1673 [Mön55] Mönch, Walter: Das Sonett . 1955 [Neu78] Neubauer, John: Symbolismus und symbolische Logik . München : ?, 1978 Fußnoten 1 [Mön55], S.151f. 2 Justus Georg Schottelius, Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache, 1663 (Tübingen 1967), Bd.1, S.36 3 [Kuh71], S59f. 4 [Kuh73,Abschnitt 20] 5 [Neu78,S.33] 6 Geschicht-Herold, a.a.O. 7 Geschicht-Herold, Vorgespräche, 27 8 kuhlmann:herold, Vorgespräche, 21 -- http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/homepage/ http://www.complit.fu-berlin.de/institut/lehrpersonal/cramer.html GnuPG/PGP public key ID 3200C7BA ------------------------------------------------------- rohrpost - deutschsprachige Liste fuer Medien- und Netzkultur Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost Info: http://www.mikro.org/rohrpost Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de