geert lovink on 6 Jun 2001 23:44:37 -0000


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[rohrpost] Rekombinant J21/Genova


From: <lop1912@iperbole.bologna.it>
Sent: Thursday, June 07, 2001 4:41 AM
Subject: Rekombinant J21/Genova

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Strategien der Neukombination

In den achtzehn Monaten, die seit Seattle vergangen sind, ist eine Sache
geschehen: ein immer größerer Teil der weltumfassenden Meinung nimmt die
kapitalistische Form der Globalisierung als gewalttätige und gefährliche
Diktatur wahr, und hält die politische Schicht, die sie verkörpert, für den
unverantwortlichen Vertreter eines kriminellen ,Lumpenbürgertums', das den
gesamten Planeten zu Katastrophen ungeahnten Ausmaßes führt, die die
Umwelt, das soziale Leben und die Psyche betreffen.
Aber so weit sich diese Bewusstwerdung auch ausdehnt  die Mächtigen der
Erde machen weiter, ohne der Vernunft Gehör schenken zu wollen.
Die Entscheidung von Bush, die Vereinbarungen von Kyoto nicht anzuerkennen,
bedeutet: die Macht hat keinerlei Bezug mehr zu den allgemeinen Belangen
der Menschheit, und kann nicht anders agieren als aufgrund der direkten
Interessen einer Schicht von globalen Räubern.

Die globale Bewegung hat den Schleier der Zustimmung, der bis vor zwei
Jahren die Oberherrschaft des globalen Kapitals stützte, zerrissen. Aber
nun entblößt sich das Kapital in seiner nackten Wahrheit: es stellt sich
als die endgültige Lösung / Endlösung für die Menschheit dar. Eine
kriminelle, unwissende und aggressive Schicht ist dabei, in allem die Zügel
zu übernehmen.
Texanische Erdölindustrielle, italienische Mafiosi, Spione des KGB. Dies
sind die Großen, die in Genua zusammenkommen.

Auch wir bereiten uns auf Genua vor, jeder in seinem Stil. In Form direkter
Aktion, friedlicher Aktion oder dadaistischer Provokation wird jeder seinen
Teil tun. Es wird eine schwierige Schlacht, weil wir Gefahr laufen, das
Territorium zu akzeptieren, das uns ein krimineller Feind vorschreibt. Aber
wir haben gelernt, dass die Schwachen für den Sieg die Waffe der
Intelligenz verwenden und den Ort der Konfrontation wählen müssen.

Es gibt Tausende von Taktiken, die in den folgenden Monaten angewendet
werden können. Aber nur eine ist die Tendenz dieser Bewegung, die Art und
Weise, in der sie aus der Phase des reinen Protestes heraustreten kann.
Diese Bewegung hat keine positive Identität. Man siehe nur die Definitionen
davon: "Volk von Seattle" ist keine Definition, sondern ein Detail der
Chronik. "Globale Bewegung" ist keine Definition, sondern eine Feststellung
über ihre problematische und geographische Ausdehnung. "Bewegung gegen den
corporate capitalism" ist keine Definition, sondern eine Negation.

Dies ist keine unbedeutende Einzelheit. Die Bewegung hat Tausende von
ideologischen, politischen, kulturellen, religiösen Identitäten, aber sie
hat kein einheitliches politisches Ziel, wie es etwa die Arbeiterbewegung
des 20. Jahrhunderts hatte. Bedeutet dies, dass sie dazu bestimmt ist, zu
verlieren, weil sie keine gemeinsamen und übereinstimmenden Ziele hat?
Überhaupt nicht. Diese Bewegung hat  unabhängig von ihren ideologischen
Selbstdarstellungen (oft konservativ oder vergangenheitsliebend)  nichts
mehr mit den Formen der historischen Nachfolge, der dialektischen
Opposition, des Kampfes um die Macht und für den Sieg, für den Austausch
der vorherrschenden Subjektivität durch eine andere Subjektivität, zu tun.
Diese Bewegung ist kein Subjekt, sondern ein Prozess. Und, genauer gesagt,
ein Prozess in zwei Stadien.

Das erste Stadium ist das, das in Seattle begonnen wurde (und dazu bestimmt
ist, in Genua den Punkt der größten Intensität zu erreichen): das Stadium
der ethischen und symbolischen Revolte, des Sammelns der kulturellen und
produktiven Energien.
Das zweite Stadium ist das des Abbaus und der Neukombination des globalen
Netzes des Wissens und der technischen Schnittstellen.

Es gibt keine chronologische Abfolge dieser beiden Phasen, aber ein
durchgehendes Ineinandergreifen. Paradoxerweise stellen die Strasse, der
Kampf, die Demonstration, der Einbruch der Körper in die
Medien-Politik-Szene das symbolische Moment dar, während die Konkretheit
einer reellen Veränderung in der Phase der kognitiven und technischen
Neukombination des Netzes des Wissens liegt.

Niemand denkt, dass wir in Genua die bewaffneten Milizen der Macht mit
hinwegreißen können. Aber wir werden uns ihnen im Namen einer ethischen und
sozialen Revolte stellen. Niemand glaubt, dass wir gewinnen würden, wenn
wir das Herz der Macht einnehmen könnten. Macht hat kein Herz; sie hat
nicht einmal Gehirn. Macht ist eine blinde Verkettung von Automatismen. Ihr
Gehirn sind nicht die Kriminellen, die im Juli in Genua zusammentreffen.
Ihr Gehirn liegt in der Tätigkeit Millionen von kognitiver Arbeiter:
Wissenschaftler, Forscher, Ingenieure, Programmierer. Millionen von
kognitiven Arbeitern, die der Entscheidung und der Kenntnis über das
globale Funktionieren ihres Wissens und ihrer Tätigkeit beraubt sind.

Der Kampf auf der Strasse ist nicht anderes als der symbolische
Aktivierungsfaktor eines Prozesses der Selbstorganisation kognitiver
Arbeiter, der Beginn des Prozesses des Abbaus der Automatismen, die das
Kapital in das Produktionssystem eingeschrieben hat.
Die unzähligen kognitiven und technischen Schöpfungsakte, deren sich das
Kapital bemächtigt, um seine automatisierte Kette der Ausbeutung und der
Macht aufzubauen, können beginnen, umgekehrt zu funktionieren, können
bewusste Sabotage, Abbau und Neuorientierung des Wissens und der Techniken
werden, die das soziale Leben der Menschheit mit Nerven durchziehen.

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