Krystian Woznicki on 19 Mar 2001 11:19:37 -0000


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[rohrpost] BSE als Metapher


Quelle:

taz Nr. 6400 vom 19.3.2001, Seite 13, 306 Zeilen TAZ-Bericht

http://www.taz.de/tpl/2001/03/19.nf/text.Tname,a0143.list,TAZ_ku.idx,1

Könnten Sie diese Katzen essen?
Tiere, nicht Menschen: Während sich das Gefühl für soziale Verantwortung 
auf gehirnkranke Rinder und Kaninchen mit schwerer Kindheit verlagert, 
führt die biologisch unterfütterte Zivilisationskritik zu immer neuen 
Kontrollmechanismen

von MARK TERKESSIDIS

Vor einiger Zeit entdeckte eine Bekannte von mir die Tierliebe. 
Mittlerweile wird ihre Wohnung von fünf Haustieren bevölkert, wobei außer 
ihren beiden Katzen alle restlichen Mitbewohner aus dem Tierheim stammen. 
Liebevoll betreut sie nun einen Dackel mit Herzleiden, ein Kaninchen, das 
immer noch schwer unter den Folgeerscheinungen von Deprivation leidet, 
sowie einen Collie mit Drogenvergangenheit (seine heroinsüchtigen Herrchen 
und Frauchen hatten ihm offenbar Stoff in die Mahlzeiten gemischt).
Den Tieren geht es gut. Meine Bekannte füttert sie mit allerlei 
Köstlichkeiten, wenn es ihr Geldbeutel erlaubt. Für die Katzen kauft sie 
gern Pute, feine Rinderrouladen oder Straußenfilet; und das, obwohl sie 
selbst Vegetarierin ist. Den Vegetarismus haben ihre beiden Töchter in die 
Familie eingeführt. Die scheuen sich zwar nicht, offen ihre Verachtung für 
"Asis" zu zeigen, doch wer nach einer Taube tritt, hat in ihren Augen keine 
Gnade zu erwarten. Meine Bekannte hat sich früher aufopfernd im kirchlichen 
Jugendzentrum für ebensolche "Asis" engagiert - für Jugendliche auf der 
schiefen Bahn. Indessen teilt sie jedoch die Meinung ihrer Töchter. Tiere 
sind einfach angenehmer.
Die Tierliebe meiner Bekannten könnte man einfach interpretieren: Sie ist 
geschieden, die Kinder sind aus dem Haus und sie hat sich einen Ersatz 
gesucht. Diese Erklärung jedoch ist so schlicht wie blöd. Tatsächlich lebt 
sie mit den Tieren ein gesellschaftliches Interesse aus: Ihr starkes Gefühl 
für soziale Verantwortung hat sich auf die Tiere verlagert. Und deren 
Betreuung ist zweifelsohne befriedigender: Sie sind ein perfektes Objekt, 
um sowohl Helfersyndrom als auch Allmachtsfantasien auszuleben.
Wer jemals zur Mittagszeit eines der Boulevardmagazine in den Privatsendern 
angeschaut hat, der wird an solchen Bedürfnisse nichts Ungewöhnliches 
finden: Gequälte Tiere oder solche mit Problemen sind dort gern gesehene 
Gäste. Nachdem sich das notorische mittelständische schlechte Gewissen in 
den letzten Jahrzehnten allen möglichen Objekten zugewandt hat - von den 
Arbeitern zu den Unterdrückten der Dritten Welt, von den Drogensüchtigen zu 
den Asylbewerbern, von den vernächlässigten Jugendlichen zu den 
Kosovo-Albanern - und allesamt sich am Ende doch als gefährliche Schläger, 
Mörder, Betrüger, Durchgeknallte oder Extremisten entpuppt haben, bleibt 
schließlich der Einsatz für ein Lebewesen von erhabener Unschuld: das Tier.
Und ist es nicht mit uns Menschen zutiefst verwandt? Sowohl alternative 
Tierrechtler als auch Evolutionsbiologen haben festgestellt: Das Tier ist 
wie wir. Und nun: Massen-"Keulungen" und Scheiterhaufen. "Jetzt töten sie 
die Lämmer", titelt Bild zur Illustration eines reizenden Schäfleins. In 
der Welt am Sonntag spricht ein christlicher Autor vom "schlimmsten 
Massenmord am Mitgeschöpf seit Menschengedenken". Er verweist sogar auf 
Arnold Toynbees Rede vom "Tier-Holocaust", den dieser für den dekadenten 
Tierverschleiß der römischen Antike prägte.
Noch vor einem halben Jahr freilich war der Aufschrei groß, als die Halter 
von Pitbullterriern ihren Hunden angesichts der allgemeinen 
Anti-"Kampfhund"-Affekte bei einer Demonstration einen gelben Stern 
anheften wollten. Zu jener Zeit musste man beim Anschalten des Fernsehers 
damit rechnen, in das grauenhaft fletschende Maul eines Pitbulls zu 
blicken. In Köln saß, wie die örtliche Boulevardzeitung Express zustimmend 
berichtete, der erste "nicht resozialisierbare" Kampfhund in der 
"Todeszelle" und wartete auf seine Giftspritze. Schließlich ging es hier um 
"blutrünstige Beiß-" oder "Tötungsmaschinen", um "Killer-Hunde", über deren 
rasche Ausmerzung Konsens bestand.
Niemand würde bestreiten, dass es massiven Veränderungsbedarf rund um die 
Tierhaltung in der Bundesrepublik Deutschland gibt. Doch im öffentlichen 
Gespräch sind Tiere wenig mehr als diskursive Verschiebemasse - 
Gegenstände, an denen sich gesellschaftliche Konflikte aufhängen lassen. 
Die Übertreibung ist stets präsent. Zumeist geht es überhaupt nicht um 
Politik, um den sozialen Hintergrund der vermehrten Kampfhundhaltung etwa 
oder um realistische Programme zur Veränderung der industriellen 
Tierverarbeitung. Es geht in erster Linie um individuelle Ängste. Wie 
bewege ich mich in der Öffentlichkeit? Wie kann ich noch soziale 
Verantwortung zeigen? Was kann ich essen? Derweil kann man nicht nur so 
paradoxe Phänomene beobachten wie Vegetarier, die ihren Haustieren feinste 
Fleischspeisen kredenzen, sondern auch tagtäglich solche Szenen beobachten, 
wie sie Harald Schmidt kürzlich zum Besten gab: Ein Mann erzählt der 
Bäckerin mit angsterfülltem Blick, dass er bei Fleisch doch mittlerweile 
starke Bedenken habe, um kurz darauf den Tabakladen mit zwei Stangen 
Zigaretten unter dem Arm zu verlassen. Es ist ein allzu bekannter Kanon von 
Problemen, der in der Berichterstattung über Tiere ausgebreitet wird. Als 
das Kampfhundverbot durchgesetzt war, sah Bild etwa eine "Welle" von 
ausgesetzten, herrenlosen Kampfhunden auf Deutschlands Straßen schwappen. 
Zudem wurde behauptet, eine ausländische "Kampfhund-Mafia" stehe bereit, um 
die Tiere über die Grenzen zu "schleusen". Angesichts der Maul- und 
Klauenseuche beschwor die Süddeutsche Zeitung einen "Virus, schnell wie der 
Wind" und sprach im militärischen Tonfall von der "Invasion der Infektion". 
Der Express stellte schließlich fest: "Angst! Sichere Grenzen gibt es 
nicht." Zum einen kommt in Deutschland alles Böse weiterhin aus dem Ausland 
- ob es nun um Drogen, Flüchtlinge, Kampfmaschinen oder Viren geht. Zum 
anderen werden soziale Probleme in biologische Prozesse verwandelt: Politik 
als Seuchenschutz.
Auch das Verhältnis zum Tier kommt nicht ohne Ambivalenzen aus: Zwar steckt 
letztlich immer der Mensch dahinter, doch das Tier kann zur Bedrohung 
werden - zur Waffe oder zum möglichen Infektionsherd wie im Falle BSE. 
Tatsächlich teilen wir uns mittlerweile mit den Rindern die gleichen 
Hirnpathologien: Erwiesen ist die Übertragbarkeit von BSE und 
Creutzfeldt-Jakob nicht, doch die Prozesse im Gehirn ähneln sich stark. Im 
Kölner Karneval waren Verkleidungen als BSE-Rind in diesem Jahr nicht 
umsonst der Renner. Allerdings ist die Krankheit für den Menschen weit 
weniger bedrohlich als vermutet: Es gibt nicht einmal einen Fall auf eine 
Million Einwohner in der EU. Offenbar handelt es sich um jene "Krankheit 
als Metapher", über die Susan Sontag Ende der Siebzigerjahre schrieb.
Die Angst vor BSE/Creutzfeldt-Jakob ist ebenso wie die Angst vor 
Entgrenzung nur aus dem gesellschaftlichen Kontext zu verstehen. Sind 
pathologische Hirnstörungen nicht das perfekte Phantasma der so genannten 
Wissensgesellschaft, in welcher nicht länger der Körper, sondern das Gehirn 
als Ressource der Produktivität gilt? Die Erkrankung an Creutzfeldt-Jakob 
sorgt dafür, dass die Nervenzellen im Gehirn anschwellen, den Kontakt zu 
anderen Zellen verlieren und sogar ausfallen können. Dadurch wird das Hirn 
löchrig wie ein Schwamm. Das führt zum Ausfall der 
"Informationsverarbeitung" und greift schließlich auf den Körper über, der 
jede Koordination verliert. Diese Krankheit ist ohne jeden Zweifel eine 
Monstrosität in den Zeiten von "Neuer Mitte" und "New Economy": Von der 
"Fitness" des Hirnarbeiters mit seinem perfekt trainierten und gestylten 
Körper könnte wenig mehr übrig bleiben als ein auf den Knien rutschendes, 
irres Tier.
"Hauptkrankheiten wie Tb oder Krebs", schrieb Susan Sontag, "sind in einem 
spezifischen Sinne polemisch. Sie werden verwendet, um neue, kritische 
Maßstäbe individueller Gesundheit und ein Gefühl der Unzufriedenheit mit 
der Gesellschaft als solcher auszudrücken." Freilich müssen weder Maßstäbe 
noch Unzufriedenheit besonders fortschrittlich sein. Aus dem Gemisch 
zwischen übertriebenen Ängsten und einer biologisch unterfütterten 
Zivilisationskritik entstehen derzeit neue Kontrollmechanismen. Der 
Einzelne wird gezwungen, in den Tagen der nachlassenden gemeinschaftlichen 
Gesundheitsvorsorge für sich selbst zu sorgen: Selbst die unerbittlichsten 
Liebhaber fetter Küche werden nun in den Terror der "leichten Ernährung" 
und ständigen Körperüberwachung à la Fit for Fun einbezogen. Die 
Unzufriedenheit, welche andauernd zwischen Pogromstimmung und tränenreichem 
Mitleid schwankt, drängt auf autoritäre Lösungen - auf Grenzen eben.
Dazu kommt ein allgemeiner Zynismus über die Spielräume der Politik im 
Allgemeinen. Und der ist sogar durchaus gerechtfertigt. Es ist 
unbegreiflich, wie irgendjemand nach den bisherigen Erfahrungen mit der 
rot-grünen Regierung von Renate Künasts "Agrarwende" mehr erwarten kann als 
große Zielvorgaben und mickerige Korrekturen - eine neue Übung in 
Imagepolitik. Was ist schon von einer Ministerin zu halten, die an die 
Lieferung von Rindfleisch nach Nordkorea - Rindfleisch, das wir selbst als 
"verseucht" empfinden und nicht mehr essen wollen - auch noch Auflagen 
bezüglich der Verteilung knüpft. Das Tier ist wenig mehr als eine 
Spielmarke auf dem Terrain dieses entpolitisierten Theaters.

taz Nr. 6400 vom 19.3.2001, Seite 13, 306 Zeilen TAZ-Bericht

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