kuhn on 9 Jan 2001 17:19:17 -0000 |
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[rohrpost] havenCo auf sealand |
schönen abend, für das magazin des zürcher tagesanzeigers war es mir vergönnt, in new orleans sean hastings zu treffen, CEO von http://www.havenCo.com . havenCo ist eine firma, die auf http://www.sealandgov.com garantiert unkontrollierbare server betreiben, und dies für so gemixte kundschaft wie TibetOnline, ETOY, banken und allerlei business. die aussicht ins informationszeitalter, die mir sean hastings in der stunde zwischen webbersfishplacebetreten und mundabwischen bot, war ziemlich exklusive und einigermassen erschütternd. mein artikel erschien letzten samstag. die havenco-site bietet unter online presskit auch den wired-artikel von simson garfinkel, wo die bilder der sealand-plattform zu sehen sind, welche auch meinen text zieren. cheers: albert kuhn - - - - - - - - - - - - (Aufrissbild: Sealandplattform in der Nordsee) (Titel) D i e F e s t p l a t t e (Lead) Sealand ist das kleinste Land der Welt. Auf der rostigen Plattform aus dem Zweiten Weltkrieg planen ein paar Amerikaner die Abschaffung von Machtmonopolen und Nationen. Legal und digital (Text) In einem dunklen Restaurant in New Orleans sitzen in der hintersten Ecke zwei Männer an einem Tisch. Der eine bin ich. Der andere heisst Sean Hastings und lässt mich von seinem Alligator kosten. «Es wird schmecken wie fettiges Huhn» warnt er, «womöglich ist es sogar Huhn.» Hastings lacht, der Tisch bebt, die Kellnerin kommt zum dritten Mal und fragt, ob die Gentlemen allright seien. Allright? Sean Hastings ist der Mann, der die New Yorker Freiheitsstatue demontieren und in der Nordsee wieder aufstellen will. Er erklärt auch gern, wie und warum er das tut. Natürlich klaut er von der Liberty nur das Prinzip - die hoch erhobene Fackel, das Versprechen, der Ort auf der Welt zu sein, wo die Freiheit am höchsten geachtet wird. «Wir Amerikaner» sagt Hastings und schiebt sich ein Stück Alligator ein, «sind ja die Jungs, die vor zweihundert Jahren aus Europa abhauten - weil es uns da nämlich zu eng wurde. Wir wollten Freiheit von Vorschriften. Heute ist es auch in den USA enger geworden, es wird Zeit für einen nächsten Schritt. Was wir auf der Insel Sealand tun, ist genau dies: Wir erfüllen nichts andere als den allerersten Artikel der amerikanischen Verfassung, das sogenannte First Amendment. Es lautet: «Der Kongress darf keine Gesetze erlassen, die Meinungs- und Pressefreiheit behindern.'» Sealand ist eine unansehnliche, dreizehn auf siebenundvierzig Meter grosse Plattform, die die Engländer im zweiten Weltkrieg als Flugzeugabwehrstützpunkt gegen deutsche Flugzeuge erbauten und Roughs Towers nannten. Sie steht sechs Meilen östlich von Felixstowe, einem englischen Industriehafen. Zwei mächtige Betonsäulen stecken bei Ebbe sechs Meter im Salzwasser, ragen einundzwanzig Meter aus der See und präsentieren eine rostige Stahlplatte mit einer schäbigen Baracke drauf. Nach dem Krieg wurde Roughs Towers bis auf eine festmontierte Kanone entwaffnet und gut 20 Jahre den Nordseestürmen überlassen. Am 2. September 1967 besetzte der englische Offizier und Kriegsveteran Roy Bates die Plattform und rief das Königreich Sealand aus, schuf eine schwarzweissrote Flagge und ernannte sich zum Prinzen, seine Frau Joan zur Prinzessin und auch Sohn Michael wurde Prinz. Im Königreich Sealand war aber nicht viel los. Für ein paar Jahre war ein Piratenradio zu Gast, ein geplantes Kasino kam nicht zustande und es gibt dauernd Ärger mit irgendwelchen Kriminellen, die sich selbst Sealand-Pässe ausstellten und damit ungestört in der Halbwelt herumreisen, einer davon ist der Mörder von Modezar ....... Die Sealand-Plattform rostete vor sich hin und die betagten Royals zogen sich, weil das Klima für die alten Knochen zu rauh wurde, auf ihren Festlandsitz zurück. Sealand gilt in Juristenkreisen als Modellfall eines Ministaates, Generationen von Rechtsstudenten erhielten den Fall schon als Seminararbeit aufgebrummt. Das Land mit den drei Einwohnern behielt selbst dann seine quasiselbständige Stellung, als England die Territorialgrenze 1987 von drei auf zwölf Meilen erhöhte. Da Grossbritannien ausser einem kleinen Scharmützel 19.., wo die Sealand-Kanone zu ihrem letzten Schuss kam, seine Territorialrechte nicht wirklich durchsetzte und die Königsfamilie Bates gewähren liess, würde es heute Schwierigkeiten haben, etwaige Ansprüche durchzusetzen. Genau dies steht in einem Buch mit dem hübschen Namen «How To Build Your Own Country», auf dem Titel ein Bild von Sealand. Sean Hastings las das Buch 1997. Sein Plan für Sealand heisst HavenCo. Das ist eine Firma, die die Plattform von der Königsfamilie Bates mietet, um dort einen sogenannten Datenhafen einzurichten. Im Innern der Betonsäulen werden Dutzende oder Hundert der leistungsfähigsten Internet-Server laufen, welche von Firmen, Institutionen oder Einzelpersonen gekauft oder gemietet werden können. Via diese Server können dann die Kunden tun, was ihnen beliebt. HavenCo verbietet lediglich Kinderpornographie und Spam, der Internet-Ausdruck für das massenhafte Versenden von e-Mails, ähnlich der unadressierten Briefkastenwerbung. Zur eigenen Sicherheit behält sich HavenCo noch vor, jede Website und jede Dienstleistung abzuschalten, die den Zugang zum Netz gefährden würde. Im Unterschied zu andern Offshore-Ländern gibt es also bei HavenCo gar keine Steuern und fast keine Gesetze - und die wenigen dürfen nicht geändert werden. Sind Amerikaner per Erbgut und Verfassung dazu berufen, die Informationsfreiheit zu verteidigen und weiter zu entwickeln, Sean Hastings? «Nun» meint Hastings, «dies war immer ein Thema der Menschheitsgeschichte. Seit jeher versuchten Regierungen oder Mächtige, den freien Informationsfluss zu kontrollieren und seit jeher gab es Versuche, Orte zu schaffen, wo freier Austausch möglich war. Plato schuf den Garten des Academus, in dem frei diskutiert und philosophiert werden durfte, ohne Angst, dafür verfolgt zu werden. Auch die USA waren so ein Ort.» Waren? Sind es nicht mehr? «Gemäss Verfassung immer noch» meint Hastings. «Weil Sprache und Schrift die damals einzige Form der Kommunikation war, bezieht sich das wichtige erste Amendment der US-Verfassung eben darauf. Es ist ja klar, dass damit auch alle moderneren Kommunikationstechnologien gemeint sind. Aber die Politiker sahen hier eine Möglichkeit, die Macht des Zentralstaates zu vergrössern und einen Unterschied zu machen. Telephon, Radio, Fernsehen und jetzt das Internet sind der Federal Communications Kommission (FCC) unterworfen und die tut nun genau das, was die Verfassung verbietet: Sie reguliert.» Hinsetzen zur Zweiminuten-Geschichtslektion. Thema: Wer hat eigentlich den Nationalstaat erfunden? Die mittelalterliche (500 - 1500) Arbeitsteilung zwischen Kirche und Reich, zwischen Papst und Kaiser hat zuweilen funktioniert - aber meistens eben nicht. Kirchenführer wollten weltliche Macht, die Fürsten der Welt Kontrolle über Kopf und Herz der Untertanen. Indem beide über den Hag frassen kamen sie sich in die Quere und in die Haare, es kam schliesslich zu sovielen Kriegen, dass sich Kaisertum und Papsttum gegenseitig massiv schwächten. Auf beiden Seiten profitierten Leute aus dem zweiten Glied: Die innerkatholische Opposition kam mit Luther zu einer Figur, die dem Papsttum offen entgegentrat. Gleichzeitig schnitten Könige und Herzöge ihre Gebiete mittels Grenzen und Zöllen nach und nach aus dem Reich heraus. Reformation und Fürstentümer stützten sich gegenseitig, was schliesslich zum Nationalstaat führte. Die Nation ist nicht Natur. Und sehr selten ist sie das Abbild der Wünsche ihrer Mitglieder - im besten Fall der rührende Versuch dazu. Der Nationalstaat ist eine Form, die es erst seit etwa zweihundert Jahren gibt, sie ist die Verwaltungsform des Industriezeitalters und wird mit ihm enden oder mindestens stark mutieren. Was die Nationalstaaten untereinander nicht aufteilten, war das Meer - es wurde als nahezu unendliche Weite sich selbst überlassen, die Menschen naschten bloss von seinem unendlichen Reichtum und die Schwierigkeiten, es zu überqueren, erhöhten den Respekt vor der See. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts - Bevölkerungsexplosion, Welthandel, Distanzbewältigung mit Flugzeugen - wurde sogar das Meer zur endlichen Grösse, zum misshandelten Teich: Fische raus, Abfall rein. Meereswellen, Zivilisationswellen. Was ist eigentlich das Informationszeitalter? Es ist nach immer übereinstimmenderen Ansichten die dritte Zivilisationswelle der Menschheit. Die erste ist das Agrar-, die zweite das Industriezeitalter. Der Ausdruck Wellen stammt vom US-Soziologen Alvin Toffler und legt nahe, dass diese Zivilisationsformen nicht überall gleich heftig und gleichzeitig eintreffen, dass sie sich überlagern können und dass sie jeweils die nächste Form gebären. Toffler prophezeit fürs Informationszeitalter: Den Untergang der Nation, der Massenschule, der Massenfabrikation und der heutigen Geldform. Sie alle sind Elemente des Industriezeitalters und waren davor unbekannt. Sealand wird, wenn alles klappt, zu einer Ikone des Informationszeitalters werden - und der CEO von Havenco wäre dann der Martin Luther, der dem Nationalstaat erfolgreich die Zähne zeigt. Sean Hastings hat dazu die grosse Statur, die kräftige Stimme, die Intelligenz, das rhetorische Talent und den selbstbewussten Habitus. Durchs winterlich kalte New Orleans marschiert er, ganz Rebellenführer, in wehend schwarzem Ledermantel, weissem Polo Shirt und schwarzen Lederhandschuhen. Der Martin Luther des Informationszeitalter ist ein 68er Jahrgang und wurde in eine Computerwelt hineingeboren. Seine Eltern waren Lehrer in Ann Arbor, der Universitätsstadt bei Detroit, die Mutter lehrte Computer Science, und das Haus war voll mit Rechnern, Bildschirmen und Telephonmodems, die die Maschinen mit dem Uni-Mainframe-Netz verbanden. Kaum konnte Sean lesen, lernte er auch schon, kleine Programme zu schreiben - das war für ihn nicht Lernen, sondern Spiel. Später studierte er Mathematik, spezialisierte sich in Wahrscheinlichkeitsrechung, verliess aber die Uni kurz vor dem Abschluss. Er stellte nämlich fest, dass höhere Mathematik nur in den Lehrberuf führe, zog nach New York und spielte Karten, «for a living», wie er sagt, also beruflich. Dann erinnerte sich Hastings, dass er ja mit Computern umgehen konnte, verdingte sich als Computer Consultant und siedelte bald nach Kalifornien über, wo er Jo, seine Frau kennenlernte. Zusammen zogen sie nach New Orleans. New Orleans liegt am Meer. Dort, weit draussen, liegt die Karibik mit all ihren Offshore-Inseln und Finanzparadiesen. Sean begann, für Offshore-Casinos zu programmieren und zog für ein Jahr auf die Insel Anguilla. Dort traf er den Amerikaner Brian Lackey und den Inder Sameer Parekh, zusammen arbeiten sie an verschiedenen Finanzsystemen. Weil Sean auf Dauer keine Arbeitsbewilligung erhielt, musste er zurück in die USA - und zu jener Zeit entstand die Idee eines Datenhafens. Heute gehört Ingenieur Lackey zum HavenCo-Team, Jo Hastings macht Marketing und Presse, der japanische Internet-Guru Joichi Ito ist Berater - und der Unternehmer Avi Freeman hat gleich zwei wichtige Funktionen: Er ist ein Router Guru, zuständig dafür, dass alle Daten von HavenCo auf dem richtigen Weg an den richtigen Ort gelangen. Dazu ist er Angel Investor - ein schnuckeliger neuer Ausdruck für Hauptgeldgeber. Das Finanzwesen hat auch seine religiösen Seiten. Sean Hastings ist nur deshalb in New Orleans, weil er in den USA noch die letzten Millionen auftreiben will, um HavenCo auf Sealand anfangs 2001 starten zu können. Dass die zu hoch bewerteten Internetaktien und deren Index Nasdaq im letzten Sommer zusammenbrachen, hat den Start von HavenCo etwas verzögert. Sean Hastings kämpft, führt Gespräch um Gespräch mit möglichen Geldgebern. Wer investiert in HavenCo und wen sprechen Sie dafür an? «Es gibt zwei Haupt-Zielgruppen. Einerseits jene, die viel Geld machen möchten. Und andererseits jene, die viel Geld haben und denen die Freiheit der Information etwas wert ist. Bis jetzt muss ich feststellen, dass diejenigen, die viel Geld machen wollen, weniger für Neues zu haben sind. Hauptkundschaft sind also die risikofreudigeren Besitzenden.» Es gibt eine dritte Kategorie, von der Sean Hastings nicht spricht: Auf Sealand werden auch Server für Etoy und Tibet Online laufen. Letzteres ist die Stimme der von China unabhängigen Tibeter, sie sind auf HavenCo kostenlos daheim, keine Massnahme der chinesischen Regierung wird der Tibeter-Homepage etwas anhaben können. Und Etoy ist die bekannteste und gleichzeitig am schwierigsten zu definierende Künstlergruppe aus der Schweiz. Die ursprünglich über Europa verstreute Gruppe begann 1992 mit gebührenpflichtigen Telefonnummern zu experimentieren, hat 1996 die Internet-Suchdienste mit der Aktion "Digital Hijack" ausgetrickst und seit 1998 ist die New Economy ihr Terrain: Anstatt sich vom Kunstbetrieb vermarkten zu lassen, hat sich etoy als Start-Up-Unternehmen lanciert und gibt Aktien aus. Es handelt sich um Kunst-Aktien, die an keiner offiziellen Börse gehandelt werden, keine Wertpapiere sind - und trotzdem gekauft werden; der kühne Versuch von Künstlern, sich durch Verschmelzung von New Economy und Kunstmarkt selbst zu finanzieren. Statt die Machtströme der Welt von aussen zu erahnen und nachzuzeichnen, wirft sich Etoy unverfroren rein schwimmt zuvorderst mit. Damit macht Etoy Unsichtbares sichtbar. Wo immer Etoy ist, geht kurz darauf irgendwie die Post ab. Also nächstes Jahr auf Sealand. Im Frühsommer 2000 ging HavenCo an die Öffentlichkeit und von Mai bis September erschien in der Weltpresse tausend mal derselbe Artikel: Wie schäbig dieses Sealand und wie kurios dagegen seine Royals seien, wie schön nun, dass ihnen diese verrückten Internet-Amerikaner gerade rechtzeitig den Lebensabend aufhellen und wie schwer sich England und das ebenfalls benachbarte Frankreich tun werden, dem unheimlichen Treiben vor ihren Küsten tatenlos zuzusehen. Aber die Konsequenzen von HavenCo, der Zusammenhang mit Geschichte und Zukunft, blieben hübsch ausgespart - obwohl Sean Hastings versichert, dass er in allen Interviews auch darüber sprach. Ob HavenCo der Shooting Star des Jahres 2001 ist oder aus rechtlichen Gründen nur mit halbem Dampf fahren darf, ist noch nicht ausgebüxt. Schiessen Sie auf Sealand aus der Hüfte, Sean Hastings? «Sagen wir's so: ich habe nichts gegen etwas Risiko. Ich finde sogar, wenn alle etwas mehr riskieren würden, hätten wir eine sichere Welt, verstehen Sie das?» Nein. Aber es tönt gut. Wie erklären sie jemandem auf der Strasse, was HavenCo will? Hastings zögert keinen Moment: «Das Internet ist ein globales Medium, die Gesetze, die die Kommunikation kontrollieren, sind aber landesabhängig. Dies führt dazu, dass Leute, die übers Internet Geschäfte machen, tendenziell in ein Land ausweichen, welches die wenigsten Vorschriften macht. Wir offerieren also einen Ort, wo die freie Kommunikation so wenig eingeschränkt wird wie nur möglich.» Wer sind Ihre Kunden? «Idealerweise jedermann, der übers Internet globale Geschäfte machen will - weil er dann am wenigsten Regeln zu befolgen hat. Im Moment versuchen die Regierungen wie Grossbritannien und die USA, mit der Informationstechnologie zurande zu kommen, dabei kommt es zu ziemlich schlechten Gesetzen. Zum Beispiel soll erlaubt werden, die Computer einer Firma abzustellen, solange zum Beispiel eine Untersuchung in Sachen Copyrightverletzung läuft. Was heisst: ob die Firma schuldig ist oder nicht, sie wird wochenlang vom Netz genommen und damit faktisch liquidiert. Oder etwa das britische GAK-Gesetz, die Abkürzung für «government access to keys». Wer Verschlüsselungen anwendet, muss der Regierung den Schlüssel zur Verfügung stellen. Nun - selbst wenn man der Regierung traut: Kann man sicher sein, dass der Schlüssel nie weitergegeben wird oder durch ein Sicherheitsleck in andere Hände kommt? Dies kann niemand garantiert ausschliessen.» HavenCo wird wohl auch Banken beherbergen, die Kunden anbieten können, da ihr Geld zu verstecken? «Das wird wohl so sein - und es ist nicht zwingenderweise eine schlechte Sache. Ich finde nicht, dass es die Regierung etwas angeht, wieviel Geld jemand hat, sie wollen es einem ja sowieso nur wegnehmen. Wer die Guns hat, nimmt das Geld von denen, die keine Guns haben - das ist die ganze Logik des Steuersystems.» Der Tisch bebt erneut. Also wird in Zukunft nichts mehr versteuert? «Die zunehmende digitale Verschlüsselung und die Möglichkeiten, Informationen aufzuteilen und unüberblickbar breit zu streuen, wird es immer schwieriger machen, herauszufinden, wer Geld hat und wer nicht. Da werden die Regierungen von Einkommens- auf Konsumsteuern einschwenken müssen, wo die Leute bezahlen, was sie benutzen - Strassen, Kultur, Gesundheitsdienste. Das Geld würde somit genau dort bezahlt, wo es auch gebraucht wird, was wiederum viel Bürokratie erspart.» Dann werden wir in Zukunft nicht mehr wissen, wie reich jemand ist? «Ja, genau. Die Unsichtbarkeit von Geld beginnt nicht etwa mit unserem HavenCo-Angebot auf Sealand - es hat vielmehr damit zu tun, dass Menschen verschlüsselt und daher geschützt miteinander kommunizieren können. Geld ist ja nur ein Zahlungsversprechen, eine Bestätigung, wer wem wieviel schuldet. Nur ein Stück Papier oder eben Zahlen in irgendeiner Maschine. Heute ist es sehr einfach, digitale Zahlungsversprechen zwischen zwei Einzelpersonen oder innerhalb einer begrenzten Gemeinschaft durchzuführen, ohne dass irgendjemand anderer davon etwas mitbekommt.» Hier gefriert mir doch der Alligator im Mund. Wie war das? Es ist also nicht genug damit, dass ein verschwindend kleiner Teil der Menschheit immer reicher wird - die können nun auch seelenruhig herumspazieren und behaupten, ihnen gehöre bloss das Polohemd und die Golfhose, die sie tragen? «Was» unterbricht Hastings, «fürchten Sie denn, was das Geld Schlimmes anstellen könnte?» Ein Beispiel für Machtmissbrauch mittels Milliarden? 50 bis 80 Prozent der Weltbank-Grossprojekte - also Dämme, Kraftwerke, Pipelines - gelten gemäss Untersuchungen des US-Kongresses als gescheitert und hinterlassen halb umstrukturierte und verschuldete Entwicklungsländer. Etwa das Kernkraftwerk Bataan nahe Manila: Es wurde von der US-Firma Westinghouse viel zu teuer gebaut, die Präsidenten-Familie Marcos liess sich bestechen, die Phillipinen bezahlen den Kredit bis im Jahr 2018 - aber das AKW lief gar nie. Es stand nämlich auf mehren Erdbegenfalten und in der Nähe eines Vulkans. Hastings lacht. «Sehen Sie? Diese Dinge passieren immer dann, wenn Zentralregierungen viel Geld in die Hand nehmen. Wenn einmal die Leute ihr Geld selbst kontrollieren und es nicht mehr aus ihren Taschen herausgesteuert wird, kann sowas nicht so leicht geschehen. Es ist klar, dass immer versucht wird, Leute und ganze Länder übern Tisch zu ziehen. Zentralgewalten und Regierungen sind dafür besonders geeignet, weil da nur wenige Leute, im Idealfall ein einzelner Diktator, betrogen oder bestochen werden muss - und schon läuft die Sache. Diese Geschichte aus den Philippinen ist ein typisches Beispiel für die alte Art, Dinge zu tun. Was ich mit HavenCo auch erreichen möchte, ist den kleinen und armen Ländern zu zeigen: Hey, im Informationszeitalter habt ihr wesentlich mehr wirtschaftliche Macht als ihr denkt. Die Internet-Branche der ganzen Welt würde auf Eure Insel passen, alle Server dieser Welt haben in einem einzigen grossen Haus Platz. Die Server werden immer dorthin gehen, wo sie die besten Bedingungen finden.» Die finden sie nächstes Jahr vermutlich auf Sealand. Ich frage noch einmal: Wer auf Sealand eine Bank betreibt, kann ganz anders rechnen, also können riesige Geldbeträge dorthinfliessen und, da keinerlei Einblick besteht, allenfalls gewaschen werden. Fazit: Mit Unrecht Geld machen wird wesentlich praktischer. Sean Hastings findet das offensichtlich nicht. Trotzdem sucht er nach einer Erwiderung. «Nehmen Sie den schlimmsten Fall, wo eine Firma ihre Fabriken in einem hungergeplagten Drittweltland aufstellt, mit Billigstlöhnen und schlechten Arbeitsbedingungen operiert und die Umwelt massiv verschmutzt. Wenn nun der globale Informationsfluss weiter zunimmt, wird Folgendes passieren: Erstens erhalten die Arbeiter eine globale Perspektive, einen Vergleich mit andern Ländern und der Druck nimmt zu, die Arbeitbedingungen zu verbessern. Gleichzeitig nimmt ihr Informationsstand und damit ihr Selbstbewusstsein zu. Zweitens: Auch die Konsumenten erhalten immer klarere Vorstellungen davon, wie und wo ihre Produkte hergestellt werden. Wenn diese Informationen eine Firma als ausnützerisch ausweisen, hat sie ein Problem. Und wenn nicht die Presse diesen Informationsfluss nicht herstellt, dann geschieht er sicher auf dem Internet.» Schön wärs, denke ich, aber gleichzeitig wird mir gewahr, dass ich in anderem Zusammenhang auch schon blauäugig optimistisch geplaudert habe. «Was man sich vergegenwärtigen muss ist» fährt Hastings weiter, «dass die Welt aussergewöhnlich reich an gesammelten Informationen wird. Kameras werden immer billiger und kleiner, es gibt immer mehr Verwendungszwecke für sie. Der Datentransfer wird billiger und schneller. Bald werden die meisten unserer Schritte in der Öffentlichkeit irgendwie aufgezeichnet, irgendwo gespeichert und von irgendjemandem irgendwo abrufbar - via Handy oder Computer. Wir haben in Zukunft mehr Zeugen und weniger Geheimnisse. Sean Hastings sieht darin Vorteile. «Ich verspreche niemandem eine völlig sichere Welt, aber ich mache eine Prophezeiung: Mit üblen Taten grosse Summen zu machen, wird von Jahr zu Jahr schwieriger. Je perfekter und allgemeiner der Informationsaustausch, desto wahrscheinlicher wird, dass Geld nur der verdient, der wirklich etwas bietet. Du wirst reich, wenn das, was Du kannst, vielen nützt. Wer an den Leuten vorbeiproduziert, wirst du verarmen.» Ist das nun das Paradies oder die populistische Phase des Kapitalismus? In seinem Buch «Powershift» (Machtwechsel) schrieb Alvin Toffler Ende der 80er Jahre: «Schon heute ist die Rate des Technologiewechsels weissglühend, die Unternehmen hängen mehr denn je von der Telekommunikation ab. Es entbrennt ein Kampf um die Kontrolle des Kommunikationssystems.» Die darauffolgende Passage ist geradezu prophetisch: «Wissen, Information oder Daten können heute andere Ressourcen ersetzen. Geld wird bald der Information und die Information dem Geld ähnlicher, beide werden in elektronische Impulse verwandelt und als solche immer schneller übertragen. Die historische Fusion von Telekommunikation und Finanzwesen erhöht die Macht jener, die die Netzwerke kontrollieren, exponentiell.» Es ist nicht möglich, das Internet zu überschätzen, denn die meisten seiner Überraschungen haben wir gar noch nicht ausgepackt. Dass e-Commerce nicht so automatisch abgeht wie sich die Firmen das gedacht haben, spricht für und nicht gegen das Netz. Die Menschen sind online so unberechenbar wie offline. Auseinandersetzungen gibt es neu auch im Netz. Dass unabhängige Netzwerk-Gruppen stärker als E-Commerce-Unternehmen sein können, bewies im Frühling 2000 die Auseinandersetzung zwischen der Künstler-Businessgruppe Etoy und dem milliardenschweren Online-Spielwarenverkäufer E-Toys. Der schaffte es mit US-Gerichtsunterstützung, Etoy wegen ähnlichem Namen und andern Anschuldigungen aus dem Netz zu kippen (obwohl Etoy zuerst da war). Darauf gelang es Etoy, in einer spektakulären Aktion namens Toywar nicht nur internationale Unterstützung zu organisieren, sondern mittels exzellenten Börsen- und Anlegerpsychologie-Kenntnissen auch die E-Toys-Aktien auf einen Bruchteil ihres Wertes herunterzufahren. Geknickt lenkten die Anwälte des E-Toys-Konzern ein. "Die teuerste Performance der Kunstgeschichte" meint Etoy selbst und der Konstanzer Netzwissenschafter Reinhold Grether bezeichnet den Vorfall als «das Brent Spar des E-Commerce». Damit sei es klar, dass die E-Commerce-Firmen sich auf dem Internet nicht so aufführen können, als gehöre es ihnen. Fazit: Auf dem Internet herrscht ausser allgemeinem Austausch niemand. Niemand ausser die Freiheitsstatue. Sean Hastings, der Umplatzierer der Liberty, lässt sich überreden, eine Prophezeiung für die Fortschritte des Informationszeitalters in den nächsten Jahrzehnten abzugeben. Weil die Musik in Webber's Restaurant nun lauter wird - dies ist schliesslich New Orleans - verläuft der Schluss des Interviews schreiend. DIES ALSO UNSERE ZUKUNFT NACH SEAN HASTINGS: «2001 starten wir HavenCo auf Sealand, 2002 entstehen weitere HavenCo-Datencenter auf der ganzen Welt und erste Konkurrenz tauchen auf. Im Jahr 2005 werden Datenhäfen die wichtigsten Einkommensanteile von Kleinstaaten. Das Internet wird durch Eternity-Systeme wie etwa Freenet verändert, sie laufen bereits jetzt und werden ab 2005 im grossen Umfang verwendet. Eternity ist eine Internet-Software ähnlich einem WWW-Programm. Man nennt die Technologie auch Peer-to-Peer, Kumpel zu Kumpel, weil hier die einzelnen Computer nicht via Provider und deren Server miteinander verbunden werden, sondern direkt. Dokumente werden auf verschiedene Computer verteilt gelagert. Der Gesamteffekt von Eternity ist, dass niemand mehr herausfinden kann, wo ein Dokument liegt und wo es herkommt.» Kampf und Übergang wohin man schaut? «Die bisherigen Mächte werden noch lange einen gewissen Marktanteil behalten» meint Hastings gelassen. «Den Nationen etwa wird die massive Dezentralisierung und Individualisierung bald auf den Wecker gehen - sie werden schon 2001 beginnen, die Datenhafen-Nationen mit Sanktionen einzudecken. Weil Copyright-Rechte nicht mehr durchzusetzen sind, werden sie 2010 aufgegeben. Die Steuergesetze konzentrieren sich auf Konsumabgaben, vor allem auf staatliche Dienstleistungen, welche dafür umso besser sein müssen. Die meisten Landesgrenzen werden geöffnet, Nationalität wird unwichtig. Dann, vielleicht etwa 2025, sehe ich Massenflucht aus den letzten Ländern, die den Informationsfluss immer noch regulieren wollen. Eine weitere Grossentwicklung ist schliesslich das digitale Geld. In abgeschlossenen Gemeinschaften schon heute existent, wird es 2005 wichtiger sein als Länderwährungen und ungefähr 2010 schwenken auch die Regierungen auf digitale Währungen ein.» Digitales Geld? frage ich Sean Hastings. Wie soll das funktionieren? «Oh,» meint der und schaut auf die Uhr, «das ist eine andere Sache, an der ich arbeite - ein anderer Aspekt des Informationszeitalters, wenn Sie so wollen. Mein Projekt nennt sich Distributed Barter System und ist ein Versuch, das digitale Geld anwenderfreundlich zu machen. Die Technik ist ja da, bald steht in jedem Laden und in jedem Haus ein Computer, es geht jetzt nur noch um die Akzeptanz.» Barter sind Gutscheine, die Tauschhandel ermöglichen, also das Geldsystem links liegen lassen. Fluggesellschaften zum Beispiel benutzen Fluggutscheine als Geldersatz. Hastings: «Und Distributed Barter sind höher entwickelte Gutscheine, die an vielen Orten eingelöst werden und mit vielen Währungen umgehen können. Wegen ihrer Komplexität sind sie auf Computerunterstützung angewiesen.» Was soll digitales Geld, wo wir noch nicht mal den Euro verstehen? Sean Hastings rundet die kleine Einführung ins Informationszeitalter, zu der dieses Interview nun definitiv geraten ist, glorios utopisch ab: «Das heutige Geldsystem» sagt er, «stützt sich auf Goldreserven und die sind begrenzt. Dies führt zu einem Nullsummenspiel - wenn ich mehr Geld habe, hat vermutlich jemand anderer weniger. Dies macht Reichtum moralisch fragwürdig. Wenn man aber das Geldsystem auf vermehrbare Werte wie Arbeit und Güter abstützt, sieht alles anders aus. In meinem Barter-Projekt hat jeder seine eigene Währung. Sie sind Journalist, also ist Ihre Währung Ihre Arbeit, die sie marktgerecht einschätzen müssen. Wenn Sie nun ein TV-Gerät kaufen, bucht Ihnen der Verkäufer soviele Albertkuhntext-Punkte ab, wie eben für einen Fernseher nötig sind. Wieviele Ihre Währung wert ist, erfährt er objektiv via Computer. Dies führt dazu, dass Reichtum unter dem Strich vermehrbar ist, weil sich natürlich alle anstrengen müssen, etwas für die Gesellschaft Nützliches zu tun. Im Idealfall werden alle reich - wogegen in einem von oben regulierten Sozialstaat die meisten arm werden oder bleiben.» Die Kellnerin räumt Hastings Alligator und meinen Catfish weg. Auf dem Flug in die Schweiz liegt Sealand links unter einer Wolkendecke. Könnte alles so einfach sein? Fördert die digitale Revolution das Gute in uns? Bin ich Check Guevara begegnet? Können wir von Amerika lernen? Mein Rückflug dauert noch an. ---------------------------------------------------------- # rohrpost -- deutschsprachige Mailingliste fuer Medien- und Netzkultur # Info: majordomo@mikrolisten.de; msg: info rohrpost # kommerzielle Verwertung nur mit Erlaubnis der AutorInnen # Entsubskribieren: majordomo@mikrolisten.de, msg: unsubscribe rohrpost # Kontakt: owner-rohrpost@mikrolisten.de -- http://www.mikro.org/rohrpost