Krystian Woznicki on 10 Oct 2000 17:11:45 -0000 |
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[rohrpost] Berliner Gazette, 11.10. |
Hirnlabor / Brain Labor oder: " Was Leibeigene im Mittelalter waren, sind Redakteure im Medienzeitalter - Sklaven." Wir sind doch alle multi, meinte mal ein Freund zu mir. Multi - was ? Aber klar, es war eine dieser mehrdeutigen Lebensgefuehlsbeschreibungen, was fehlte war der Seufzer. Stattdessen grinste mein Gegenueber und schien sich seiner Sache ziemlich sicher. Generation Multi also. Multi-Milliardaer, Multi-National, Multi-Media, Multi-Talent, Multi-Eddi, Multi-Mind [1] : sich vierteilen, alles koennen, ueberall gleichzeitig mit- und vordenken, omni-praesent sein. Und als klare Folge: nein, nicht drauf bestehen sich einweisen zu lassen, sondern abschoepfen, sich auszahlen lassen, mehr, ich meine, multi-stellig. Was sonst. Wie stellen wir uns diesen Menschen vor, der in uns lebt, schon seit geraumer Zeit in der Medienlandschaft via Werbung und Konsorten als neuer, Stiftung Warentest-gepruefter Phaenotyp von sich Reden macht? In einem TV-Beitrag hiess es ja auch ueber den Chef von ebay, er sei nicht nur erfolgreicher Existenzgruender, sondern auch begnadeter Schlagzeuger. In der Agentur stehen Tischtennis-Tische. Was man nicht alles Koennen muss, um bei ebay dabeizusein! Dass Spezialisten irgendwie out sind, oder keine Zukunft haben, scheint ein Gemeinplatz in der Flexibilitaets- Liga zu sein. Doch sollten sie nicht von einer neuen Klasse von Alles-ein-bisschen-Koennern ersetzt werden? Deskilling war doch das Stichwort. Aber wer will schon immer weiter lernen, immer wieder von vorn anfangen, wenn es auch anders geht? Und dass es geht, zeigen uns die neuen Kreativen: sie koennen mehr, sie koennen alles, gleichzeitig und ueberall. Sie sind Conoisseur, Gourmet - Superman, Batman, Hulk, alles in einem. [2] Spielend versteht sich, ohne die geringste Muehe, wie von selbst erledigen sie Aufgaben. Denn allein daran lassen sich wahre Multi-Talente erkennen. Und wer sich schon immer fuer einen potentiellen Multi hielt, greift nun zum Inkubator-Programm von Sony. Seit einigen Monaten spuckt es in der Hauptstadt: Die "Go Create !" - Aufrufe bleiben nicht ungehoert, und immer mehr Menschen pilgern zum Potsdamer Platz. [3] Verknuepfen, verbinden, zusammenschliessen, verstaerken, ausbauen, verlaengern, verkabeln: "Schliessen Sie sich jetzt an und legen Sie los" fordert die Kultmarke. Die neue Zauberformel lautet Zubehoer. Memory Sticks, Drucker, Mikrofone, Diktiergeraete, digitale Bilderrahmen. Von A bis Z, von der Aufnahme bis hin zur Praesentation ist alles eine Frage von ...Verknuepfung. Im Werbespot liegt ein bewusstloser junger Mann auf der Intensivstation. Und kann durch herkoemmliche Wiederbelebungsversuche nicht reaktiviert werden. Erst als eine lose Produktpalette von bonbonsilbrigen Apparaten aneinandergeschlossen wird und heftigste Beats durch die Ohreneingaenge das Hirn durchzucken, kommt der Patient zu Bewusstsein. Auffaellig: Was sonst am Herz vollzogen wurde, spielt sich hier rund ums Hirn ab. [4] Ueberhaupt erinnern die graphischen Darstellungen der GoCreate-Welt an Schaltkreiszeichnungen, und damit auch an die erste Darstellung des neuronalen Netzes durch Sigmund Exner um 1894. Sie sehen also eigentlich so aus, wie man sich die Visualisierung von Intelligenz vorstellen wuerde. Haarspalterei werden Sie da sagen. Und doch: Der Mythos vom Creative Berlin duerfte ins Wanken geraten, and the winner is... Intelligent Berlin. Fragt sich nur noch warum die Baustellen-Laborhaftigkeit der Stadt immer wieder im Vordergrund steht, obwohl doch alles nicht kreativ, also nicht mit lauter Unbekannten tastend erprobt, sondern vielmehr der Logik eines Schachspiels entsprechend, am Reissbrett kritisch rekonstruiert wird. [5] 1. http://www.multi.mind.de 2. http://www.nytimes.com/2000/09/16/opinion/16STER.html 3. http://www.gocreate.sony.de 4. http://www.berlin.de/das-neue-berlin 5. http://www.zib.de/Visual/projects Fuer die kommenden Tage sind folgende Termine in Deinen Kalender aufzunehmen: Mi - 11.10. V o r t r a g : Die im Herbst 1995 begonnene, inzwischen sehr populaere Mittwochsreihe Treffpunkt im Neuen Berliner Kunstverein [http://www.nbk.org] bietet allwoechentlich Vortraege, Kuenstlergespraeche und verschiedene Aktionen. Der 200. Treffpunkt wird von der australischen Medienkuenstlerin Jill Scott bestritten. Anhand eigener Werkbeispiele wird sie das Thema "Interactive Portraits - the Creation of Virtual Characters" in einem Vortrag in englischer Sprache beleuchten. Ort: NBK, Chausseestr.128/129, 19 Uhr. Fr - 13.10. L e s u n g : Dussmann - das KulturKaufhaus bietet der britischen Erfolgsautorin J.K.Rowling die Moeglichkeit, live bei der Harry Potter Nacht vorbeizuschauen zumindest virtuell. 500 Gaeste werden im Kaufhaus die letzten Stunden bis zum Verkaufsstart der deutschen Ausgabe des vierten Harry Potter Bandes gemeinsam verbringen. Nach einer Lesung des deutschen Uebersetzers steht dann ab 0:01 Uhr fuer die Gaeste ein Berg von mehr als 2000 Exemplaren "Harry Potter und der Feuerkelch" zum Verkauf bereit. Wer von uneinsichtigen Muggels daran gehindert wird, ins KulturKaufhaus zu kommen, der kann das ganze zauberhafte Geschehen live im Internet verfolgen [http://www.kulturserver.de]. Ort: Dussmann, Friedrichstr.90, ab 22.30 Uhr. Bis naechste Woche, Krystian Woznicki mailto:krystian@snafu.de PS: Honecker.de [http://www.honecker.de/] ist keine Ostalgie, aber auch kein Befreiungskitsch westlicher Lesart, sondern eine gutgemeinte Satire fuer beide Teile des zusammenwachsenden Deutschland. Eine Reihe von Text- und Tondokumenten lassen den alten klassenkaempferischen Geist wieder aufleben: Heil Honecker ! PPS: In alter Frische, aber mit neuen Farben, uebersichtlicher und durch kleine Neuerungen auch umfangreicher, kann man sich das Ergebnis des flyer-redesigns jetzt im Netz anschauen [http://www.flyer.de]. Als erfreulichen Nebeneffekt hat sich dabei sogar noch die Ladezeit verkuerzt. Vorerst nur in Berlin, informieren die Macher nun regelmaessig auch darueber, welche Events live im Netz uebertragen werden. [] Impressum Berliner Gazette - das woechentliche Mini-Feuilleton im elektronischen Briefformat, wird von www.kulturserver.de herausgegeben [] Redaktion Berliner Gazette Klaas Glenewinkel Ulrike Rogler Anne Schreiber Krystian Woznicki (V.i.S.d.P.) 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