Martin.Doll on 9 Sep 2000 13:29:01 -0000


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[rohrpost] Zum Thema Videokunst und Werbung


Title: Zum Thema Videokunst und Werbung
Danke für die kritischen Anregungen.

>Wieso verläuft die Rekuperation - um Debord-Jargon zu benutzen - nur von der
>"Kunst" in die "Werbung" und nicht auch umgekehrt? Knüpfen nicht schon die
>frühesten Videokunst-Arbeiten z.B. von Paik und Vostell an ihr
>zeitgenössische Werbeästhetik an? (Stichwörter: Pop Art, Fluxus,
>Dé-coll/age.) Und gilt das nicht erst recht für die narrative Videokunst der
>80er Jahre aus dem Umfeld von "Infermental"?

Zum Thema Rekuperation möchte ich anfügen, daß diese Bewegung nicht bei einer einmaligen Vereinnahmung stehen bleiben muß. Auch eine Rekuperation kann rekuperiert werden. Dies führt gleich zum nächsten Punkt: Wenngleich ich Degord nicht in allen Punkten Recht geben möchte (z. B. "Vor uns liegt aber der Beweis der Zerstörung jeder Art des künstlerischen Ausdrucks: die moderne Kunst."), würde ich gerade die angebenen Beispiele als Beweis dafür nehmen, daß die moderne Kunst sich zum Teil auch im Bereich des Spektakulären (im Debordschen Sinne) bewegt. Zu Andy Warhols Zeit hat seine Form der Rekuperation durchaus funktioniert. Die Geschichte zeigt uns jedoch, daß sie wiederum rekuperiert wurde und sei es auch in den "anständigen Museen zeitgenössischer Kunst" (Merchandising: Tassen, Plakate, Socken, Stifte ...). Das ist jedoch nicht Warhol anzulasten. Um den frühen Hegel zu diesem Punkt zu paraphrasieren: das absolute Wissen ist immer nur das absolute Wissen über eine relative Situation, es hat nur Gültigkeit innerhalb des relativen historischen Moments.

>Die erste Unterscheidung erscheint mir seit William Morris auch für die
>moderne Kunst nicht mehr zeitgemäß, und die zweite wäre schon deshalb naiv,
>weil auch zeitgenössische Kunstwerke kommerzielle Markenartikel mit einer
>corporate identity sind. Was die Coca-Cola-Flasche für jeden anständigen
>Supermarkt der Welt ist, sind das Mario Merz-Iglu, die Jenny
>Holzer-Leuchtschrift, die Dan Falvin-Neonröhre und das Thomas
>Ruff-Fotoporträt für jedes anständige Museum zeitgenössischer Kunst.

Mario Merz und Co sehe ich hinter dieser Folie etwas kritischer: Sie sind nicht mehr als ein gelungenes Beispiel dafür, daß sich Künstler zum Teil selbst sehr gut im Spektakel (und im Wissen seiner Mechanismen) eingerichtet haben und der Wert der Ware Kunst für sich zu nutzen verstehen. Nicht umsonst hat sich Debord gegen den Warencharakter der Kunst gewandt und entwirft eine Utopie der "Kunst der Zukunft (...) (,welche) nicht mehr als Ware aufgewertet werden kann; entsprechend verwirft Debord in Analogie zur Ware den Begriff Werk im Zusammenhang mit Kunst.

>Nicht nur die Rezeptionshaltung, auch die Haltung der Produzenten wirft aus
>meiner Sicht - nach dem Bauhaus, nach Kurt Schwitters (der zugleich
>"Künstler" und Werbegestalter war), nach Andy Warhol - diese Frage auf.
>Mir fallen nur zwei Kriterien ein, "Kunst" und "Werbung" zu unterscheiden:
>- eine implizite Unterscheidung von "freier" und "angewandter" Kunst;
>- eine ethisch-politisch begründete Differenzierung von "Kunst" und "Kommerz".
>Meine persönliche Ansicht ist, die ich hier nur vorsichtig äußern möchte,
>daß Debord als Theoretiker heute überschätzt wird. Man übersieht leicht, daß
>sein Denken sich bruchlos - und zudem eher spät - im Diskurs der
>französischen postmarxistischen Soziologie der 1950er und 60er Jahre bewegt
>und ihm den nirgends definierten oder präzisierten Begriff des "Spektakels"
>hinzufügt, den aus heutiger Sicht mediensoziologisch ausdeutet.
>Meine persönliche Ansicht ist, die ich hier nur vorsichtig äußern möchte,
>daß Debord als Theoretiker heute überschätzt wird. Man übersieht leicht, daß
>sein Denken sich bruchlos - und zudem eher spät - im Diskurs der
>französischen postmarxistischen Soziologie der 1950er und 60er Jahre bewegt
>und ihm den nirgends definierten oder präzisierten Begriff des "Spektakels"
>hinzufügt, den aus heutiger Sicht mediensoziologisch ausdeutet. Die
>"Rekuperation" bzw. "Eindämmung" (Stephen Greenblatt)
>künstlerisch-politischer Subversion ist vor und nach Debord in diversen
>post-, neo- und paramarxistischen Kunstanalysen untersucht worden, die
>vergleichend heranzuziehen sich lohnen könnte: allen voran die "Dialektik
>der Aufklärung" von Horkheimer/Adorno*, aktuell die literatur- und
>kulturwissenschaftlichen Schriften des kalifornischen "New Historicism".
>Sehr wahrscheinlich haben Debord und die Pariser Situationisten die
>Kritische Theorie und Walter Benjamins Schriften einschließlich des (schon
>in den 30er Jahren ins Französische übersetzten) "Kunstwerk"-Aufsatzes nicht
>gekannt; weshalb sie u.a. dazu verdammt waren, mit ihrer "Psychogeographie"
>Benjamins "Passagenwerk" neuzuerfinden. - Rodolphe Gasché, Mitglied der
>Situationischen Internationale in den 60er Jahren, später Derrida-Übersetzer
>und Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft in Buffalo, sagte mir
> einmal auf meine Nachfrage hin, daß er die S.I. weniger mit einer Theorie
>identiziere als mit einer Lebensepisode, die ihn zu Benjamin, Adorno und
>später zur Dekonstruktion hingeführt habe.

Debord hat durchaus das Spektakel genauer definiert oder präzisiert. Als absolute Grundbedingung seines Funktionierens sieht er die Trennung von Bild und Betrachter (das ist auch das Moment, das ich mit geänderter Rezeptionshaltung in bezug auf Videokunst meinte).
Im Zusammenhang mit Mario Merz ist die zweite Grundthese Debords von der 'Ware als Bild' interessant. Im Kontext von Marx' Theorie von Tauschwert und Gebrauchswert kommt er zum Schluß, daß nicht das Bild einer Ware vorgeführt wird, sondern Waren, die ausschließlich Bilder sind, deren einziger Sinn die Vorführung ist, welche einen Gebrauchswert der Ware verkündet, der jenseits der Vorführung nicht bestünde. "Der Gebrauchswert, der im Tauschwert mit inbegriffen war, muß jetzt in der verkehrten Realität des Spektakels explizit verkündet werden." Wenn sich diese Theorien beispielsweise mit denen Baudrillards decken, so ist das Debord nicht vorzuwerfen, schließlich muß man ja in ihm den Verdenker des Simulakrums sehen.
Debords Vorstellungen von der Psychogeographie (die er als Wissenschaft zur Erforschung der Zusammenhänge zwischen einer architektonischen Umgebung und der menschlichen Empfindung sieht) als Neuerfindung des 'Passagenwerks' Benjamins zu lesen, ist nicht ganz richtig. Im Gegensatz zu Benjamin geht es Debord keineswegs darum, sich von der Umgebung verzaubern zu lassen. Benjamin schreibt: "Ein Rausch kommt über den, der lange ohne Ziel durch Straßen marschierte.". Ein solcher Rausch interessiert Debord und seine Mitstreiter nicht. Das derivé (das Umherschweifen) soll vielmehr nüchtern sein. Die Geschwindigkeit der Bewegung garantiert Abwechslung, dadurch Distanz und einen klaren Kopf.
Debord hätte Rodolphe Gasché sicherlich Recht gegeben, wenn dieser feststellt, daß Debords Theorie nicht apodiktisch eine immerwährende Wahrheit behauptet, sondern untrennbar mit dem geschichtlichen Moment verknüpft ist. Wenn Debord darüber hinaus in bestimmten Punkten unklar bleibt, so aus einem bewußten Kalkül, nämlich um nicht selbst rekuperierbar zu werden (sein 'Geheimwissen' sollte die einzig für ihn mögliche Lösung sichern: die Weltrevolution - als totaler Umsturz der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse; alles andere wäre für ihn nur wieder eine Stärkung des bestehenden Systems gewesen). Wenngleich ich nicht so radikal denke, ist Debords Theorie (so kryptisch sie im einen oder anderen Fall daherkommen mag) nur vor diesem Hintergrund als logisch zu verstehen.

Auf weitere kritische Anregungen freut sich

Martin Doll