Ulrike Meinhof on 31 Aug 2000 00:11:02 -0000


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[rohrpost] Jungle World 36, 30.08.2000


Beta-Blocker, Version 3.0
Start Up - die Apologeten der Internet-Ökonomie treffen sich in Berlin
zur großen Konferenz. Die Kritik wird frei Haus mitgeliefert. von holm
friebe, anton landgraf und wolf-dieter vogel

Das Internet, schrieb Robin Detje zum Jahreswechsel, komme ihm
manchmal vor wie »die Rache der Jungs mit den dicken Brillen«. Weil
früher in der Schule nie jemand mit ihnen zu tun haben wollte, hätten
sie als Übersprungshandlung so lange an ihren Maschinen
herumgetüftelt, bis niemand mehr daran vorbeikam und sich notgedrungen
zähneknirschend dem Primat der Technokraten beugen musste. Da ist mit
Sicherheit etwas dran.

Der Auftritt des Nerds auf der Bühne der Weltgeschichte war ein
überraschender Dramaturgieeinfall und traf viele völlig unvorbereitet.
Wer hätte ernsthaft daran geglaubt, dass aus den hospitalistischen
Technikbastlern binnen eines Jahrzehnts umschwärmte Multimillionäre
werden, die für Werbung posieren und in Talkshows mit agitatorischen
Reden der lahmarschigen Politik auf die Sprünge helfen wollen? Die
Sexywerdung des Nerdischen in allen Industrienationen zählt auf den
ersten Blick vielleicht zu den nachhaltigsten kulturellen Umbrüchen
der vergangenen Jahre.

Doch selbst wenn Cargo-Hosen und lange Haare längst keinen Unternehmer
mehr schrecken - eher im Gegenteil -, sind es nicht mehr die Freaks
und Tüftler der Anfangsjahre, die die Geschicke der digitalen Ökonomie
lenken. In der zweiten Stufe zeigt sich, dass Managementqualitäten das
schiere Technikverständnis überformen. Wenn es darum geht, einer Idee
ein Businessmodell überzustülpen, haben die Jungs mit den dicken
Brillen nichts mehr zu melden.

Dem soziologisch geschulten Blick allerdings entgeht nicht, dass hier
zwei völlig unterschiedliche Typen am Werk sind. Manche ehemaligen
Nerds - siehe Bill Gates - haben den »Bitflip« (eine
Persönlichkeitsveränderung um 180 Grad, wie dem
Hacker-Dictionary »Jargonwatch« zu entnehmen ist) hinbekommen, aber im
Kern sieht die neue internetgestützte Gesellschaftselite anders aus
als die diejenigen, die ihre Produktionsmittel erfanden. Sie sieht
aber auch - zumindest in den USA - anders aus als die alte
Gesellschaftselite.


Beta-Version 3.0


Ist das World Wide Web also noch immer anarchisch-utopistisch?
Natürlich, meint Gabriele Fischer, die Chefredakteurin des
New-Economy-Magazins Brand eins. Warum? Weil die Folgen des
Internet-Einsatzes »traditionelles Wirtschaften radikal verändern«.
Also heißt der neue Mensch künftig Yettie - young, entrepreneurial,
tech-based - und ist »hoch flexibel, risikofreudig und vor allem auf
sich selbst bezogen«, wie Soziologieprofessor Günther Voß von der
Technischen Universität Chemnitz erklärt. Das Revolutionäre: Die
Aufhebung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Ein Yettie
lässt sich nicht ausbeuten, er beutet sich selbst aus. Er bastelt
Internet-Kaufhäuser und stylt Website-Werbung, immaterielle Arbeit, 70
Stunden die Woche, zwischen Red-Bull-Dosen und Heizungskeller.

Wie das am besten funktioniert, können die modernen Weltverbesserer am
kommenden Wochenende im Berliner Haus der Kulturen der Welt lernen:
BerlinBeta-Version 3.0 »thematisiert die Revolution, die sich derzeit
in Wirtschaft und Gesellschaft und deren medialen Schnittstellen
vollzieht«, verspricht die Ankündigung der dreitägigen Konferenz.
Panels und Key Notes, sprich Podien und Referate zu allem, was der
neue Start-Up-Mensch braucht: »Interface Design, Finance, Urban Drift,
Digital Video/Film und Net Business«. Fragestellung beim Re:Build The
Interface Experience: »Gibt es ein Leben jenseits der
Desktop-Metapher?« Kulturelles Begleitprogramm inbegriffen. Und weil
Beta-Version, immer offen für Verbesserungen.

»Berlin ist ein kreativer Ballungspunkt. Hier kann man mit Kompetenz
und Engagement mehr erreichen als anderswo, da sich hier die
Hierarchien ständig verschieben«, erklärt Veranstalter Marc Wohlrabe.
Apropos: Zum Abschluss, am Sonntag, »ein Blick zurück nach vorn - auf
die anarchische Seite des Netzes«. Mit Rainer Langhans, München.


Rifkins Welt


Neues Wirtschaften: In der New Economy werde der schnelle Zugriff auf
Ideen, Güter und Dienstleistungen wichtiger als der Besitz
schwerfälliger Dinge, schreibt der US-amerikanische Trendforscher
Jeremy Rifkin in seinem neuen Buch »Access. Das Verschwinden des
Eigentums«. Das habe fundamentale Auswirkungen: Besitz wird nicht mehr
ausgetauscht, sondern von den Kunden auf der Basis von
Mitgliedschaften, Leasing- und Lizenzverträgen genutzt. Während man
also in der traditionellen Ökonomie schuftete, um Autos,
Waschmaschinen oder eine Eigentumswohnung zu erwerben, betrachten die
Akteure der New Economy materielles Eigentum als eine überflüssige
Last. Leasen statt kaufen, nutzen statt besitzen.

Beispielhaft zeigt sich diese Entwicklung zwischen alter Ökonomie und
neuen Formen des Kapitalismus in der Auseinandersetzung um Napster
oder, noch fortgeschrittener, um Gnutella. Diese Programme ermöglichen
das kostenlose herunterladen von Musikdateien - sehr zum Entsetzen der
Musikindustrie, die sich dadurch in ihrer Existenz bedroht sieht.
Ähnliche Software für Bild- und Filmdateien ist ebenfalls bereits
entwickelt.

Was sich zunächst wie ein schnöder Streit um Lizenzen und Copyright
anhört, könnte sich jedoch bald als Kampf zweier unterschiedlicher
Systeme entpuppen. Das neue Zeitalter mit seinen hochentwickelten
Informations- und Kommunikationstechnologien unterscheidet sich von
der Marktwirtschaft ungefähr im selben Maße wie die Marktwirtschaft
vom Merkantilismus, schreibt Rifkin. Die elektronischen Tauschbörsen
seien heute vielleicht nur eine Randerscheinung. Doch schon bald könne
ein Großteil der Wirtschaft nach der Logik dieses neuen Marktes
funktionieren. Idee, Wissen und die UMTS-Frequenzen, die erst kürzlich
in Deutschland für 100 Milliarden Mark versteigert wurden, scheinen
mehr wert als Güter und materielle Waren.


Hippies und Popper


Der Raum des Immatriellen war in den USA zunächst das
(Business-)Medium der Außenseiter, Randständigen und Marginalisierten.
Die, die nichts zu verlieren hatten, versuchten ihr Glück im Netz: Ein
Fehlschlag mehr oder weniger - was soll's? Viele Ex-Hippies gehören
heute zur Liste

der Superreichen, ebenso wie nicht wenige Immigranten.

In dem kürzlich in den USA erschienen Buch »Bobos in Paradise - The
New Upper Class and How They Got There« beschreibt der Journalist
David Brooks mit feinem Gespür diesen Ablösungsprozess. »Bobos« steht
für Bourgeoise Bohemians und meint jenen neuen Menschenschlag, der
nicht qua Geburt und familiärer Herkunft sondern qua Ausbildung und
Unangepasstheit ins Establishment vorgerückt ist.

Brooks seziert die neuen feinen Unterschiede und invertierten
Statussymbole, mit denen die Bobos sich Distinktion verschaffen. Die
Adaption europäischer Kaffeehauskultur durch Ketten wie Starbucks habe
die klassische Unterscheidung zwischen Bourgeoisie und Boheme
verwischt. Tatsächlich sei eine gewisse Anti-Establishment-Haltung
heute geradezu Voraussetzung, um als legitimes Mitglied der
Bildungselite zu gelten - mit den entsprechenden Konsequenzen fürs
Konsumverhalten.

Verschwenderischer Konsum ist verpönt und gilt als banausisch, es sei
denn, er lässt sich über einen professionellen Anspruch
legitimieren. »Es ist vollkommen akzeptabel, Unmengen von Geld für
alles auszugeben, was von professioneller Qualität ist, selbst wenn es
nicht das geringste mit der eigenen Profession zu tun hat«, schreibt
Brooks.


Unerotische Deutsche


Waren es in den USA die Drop-Outs, die erste Geschäfte im Netz
machten, sind es in Deutschland die Popper, für die sich Subkultur im
alldonnerstäglichen After-Work-Club erschöpft. »Die BWLer übernehmen
das Netz«, schlug kürzlich die Zeitschrift de:bug Alarm, die sich
immer noch standhaft um die Reste von Kultur hinter den elektronischen
Lebensaspekten verdient macht. Ganz klar, um an Venture Capital zu
kommen, empfiehlt es sich, wie der perfekte Schwiegersohn auszusehen
und den entsprechenden familiären Background vorzuweisen.

Wenn der deutsche E-Commerce überhaupt ein Gesicht hat, so ist es das
Strebergesicht von Max Cartellieri, seines Zeichens Gründer von
Ciao.com und Sohn des Deutsche-Bank-Aufsichtsratsmitglieds und
CDU-Schatzmeisters Ulrich Cartellieri. Über ihn schreibt die Financial
Times Deutschland: »Wer Cartellieri und seinesgleichen trifft, wird
sich bewusst, wie weit Amerika weg ist. Deutsche Start-Up-Chefs
brauchen weder Verführung noch Vision, ihre Geschäftsideen übernehmen
sie (wie Ciao.com) aus den USA. Dafür besuchten viele von ihnen
Elite-Unis, etliche haben reiche Eltern. Der Chef des Handy
Auktionshauses 12snap heißt Michael Birkel und ist Sprößling der
Nudel-Dynastie; Christoph Mohn, Sohn des Bertelsmann-Patriarchen
Reinhard Mohn, ist Chef von Lycos. Das Personal der neuen Wirtschaft
ist das Personal der
en.« 

Der klangvolle Name gepaart mit der beim Auslandsstudium an der Elite-Uni aufgeschnappten Geschäftsidee: eine sichere Nummer! Und alt aussehen in der New Economy - das geht ohne weiteres. 


twentyfour-seven 


Schön blöd, wer heute noch eine CD oder ein Auto sein eigen nennt. Aus Märkten, wo die Kunden ihre Waren an geographisch festgelegten Orten erwerben, werden schwerelose Netzwerke, in der sich die schleichende »Entmaterialisierung« des Geldes und des Besitzes vollzieht. Der von Ort und Zeit unabhängige Kapitalismus könnte dadurch eine neue, bisher unbekannte Dynamik entfalten. 

Mit dem Ende des Industriezeitalters verändern sich aber nicht nur die Formen, sondern auch die Inhalte der Produktion. Nicht mehr die Verarbeitung der materiellen, sondern die Ausbeutung der kulturellen Ressourcen wird zur entscheidenden Frage des neuen Kapitalismus. Und wer den Zugang zu den Kommunikationskanälen kontrolliert - wie etwa das Anfang des Jahres durch Fusion entstandene Medienunternehmen AOL/Time Warner - könne auch entscheidenden Einfluss auf die Inhalte nehmen. 

Darin sieht Rifkin die größte Gefahr. »In der neuen Welt finden kommerzielle Aktivitäten 24 Stunden am Tag sieben Tage die Woche statt.« Sie umfassten alles, was bisher noch der Sphäre des Privaten zugeordnet wurde. Alles, was der M
ensch braucht, wird nur noch als bezahlter Service zu erhalten
sein. »Die kapitalistische Reise endet mit der Nutzbarmachung der
menschlichen Natur selbst«, schreibt er in einem seiner unzähligen
Artikel. Die neuen Kräfte des »kulturellen Kapitalismus« könnten die
verbliebenen kulturellen Ressourcen verschlingen, »indem diese
Überbleibsel wieder verpackt werden in kurzlebige, kommerzielle
Unterhaltungsartikel, bezahltes Amüsement und gekauftes Spektakel«.
Der Zukunftsforscher sieht daher eine vollkommene »Ökonomisierung des
Menschen, seiner Beziehungen und seiner Bedürfnisse« heraufziehen.
Eine »Devolulation der Zivilisation«. Kurz: den totalen Markt.


Chancen und Risiken


Kein Frage, Jeremy Rifkin ist selbst ein Produkt der New Economy und
gleichzeitig ihr profiliertester Vordenker. Sie lebt gerade davon,
dass sie nicht mehr die heile Welt verspricht und den naiven
Fortschrittsglauben des Industriezeitalters hinter sich gelassen hat.
Und wie kein zweiter beherrscht der Trendforscher Rifkin den Gestus
des »sowohl-als-auch«. Seine These, der Kommerz verschlinge die
Kultur, kommt auch dem bügerlichen Kulturpessismus entgegen. Seine
Analyse, dass die digitale Revolution die Kluft zwischen Arm und Reich
vergrößert, erfreut hingegen die linken Kritiker. Schließlich weiß
auch Rifkin, dass sich die Welt in zwei ungleiche Zivilisationen
teilt: diejenigen, die im Cyberspace leben, und die, die draußen
bleiben.

Die neue Ökonomie zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Kritik
gleich mit adaptiert. Stets ist dafür von den Chancen und Risiken zu
erfahren, und natürlich von den Lösungen, die es gibt. Fundamentale
Kritik ist längst Bestandteil eines ausdifferenzierten Apparates
geworden, der von seinen Gegnern noch immer gerne mit dem Schlagwort
Neoliberalismus bezeichnet wird. Doch in diesem Begriff liegt eine
Sehnsucht nach früheren klareren Verhältnisse verborgen, die nicht
mehr existieren.

Der Vorstandsvorsitzende, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit
Adorno zitiert, ist heute keine Seltenheit mehr. Kein Minister und
kein Feuilletonist, der nicht über die Gefahren der neuen
Entwicklungen spricht und gleichzeitig betont, dass keine Alternativen
existieren. Sie haben die Kritik als einen weiteren produktiven und
identitätsstiftenden Faktor in den Apparat integriert, weil sie diese
Kritik - abgesehen von ihren Schlussfolgerungen - als zutreffend
betrachten.


Kritik


Und so liefern auch die Events die Kritik gleich mit, innovativ,
dynamisch, preiswert. Expo 2000: Die Agenda 21 wird zum Hype, die
Internationale Frauenuniversität sorgt für feministische Zutaten, NGOs
fordern sanfte Erneuerung. Die BerlinBeta präsentiert Kapital und
Kulturrevolte, Podium und Party gleich im Gesamtpaket: »Tagsüber
sollen aktuelle Themen besprochen werden, abends kann man Geschäfte
machen.« 

Bei Club-Events und Filmfestival, so erklärt Veranstalter Stephan Balzer, »mischt sich das Business-Publikum mit den reinen Kino- und Partygängern«. Diesseitiges und Jenseitiges, mit Techno und Kultfilm. Zur Eröffnung bietet man Kanak Attak von Lars Becker. Im Programm des kongresseigenen »P&S Music Departement»: Atari Teenage Riot. Die Combo dürfte was Innovatives zu liefern haben. Der letztjährige Auftritt auf dem Lautsprecherwagen der autonomen 1. Mai-Demontration verschaffte der Band hippe Video-Aufnahmen von prügelnden Polizeibeamten auf Kreuzberger Straßen, untermalt mit aggressivem Techno-Trash. 




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