Tilman Baumgaertel on Wed, 31 May 2000 19:26:13 +0200 (CEST)


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[rohrpost] Ein Leserbrief


keine ahnung, ob das veroeffentlicht wird...

t. 


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Sehr geehrte SpringerIn-Redaktion, 

in Band VI, Heft 1 Ihres Magazins haben Sie eine Kritik meines Buches
"net.art - Materialien zur Netzkunst" (Verlag für moderne Kunst, Nürnberg
1999) veröffentlicht. 

In dieser Rezension benutzt die Autorin mein Buch als Anlass, um ihre
Ressentiments gegen Netzkunst zu formulieren. Die
Anti-Netzkunst-"Argumente", die sie dabei vorbringt, sind sattsam bekannt
und bedürfen keines weiteren Kommentars. Was mich an dieser Kritik
allerdings verblüfft hat, ist die Methode, mit der die Autorin meine - im
Vorwort, in diversen Interviews (u.a. in SpringerIn) und bei jeder sich
sonst bietenden Gelegenheit - ausdrücklich formulierten Intentionen
ignoriert oder mir sogar das schiere Gegenteil unterstellt. 

Mit "net.art" wollte ich eine Kodifizierung und Kanoniserung von Netzkunst
als "Grosse Kunst" bewusst vermeiden, und habe darum auch Projekte
aufgenommen, die gar nicht den Anspruch erheben, als Kunst betrachtet zu
werden (wie z.B. die Digitale Stadt Amsterdam oder name.space). Deswegen
bin ich mehr als erstaunt, dass mir hier nun doch wieder vorgehalten wird,
dass ich einen "Hochkulturdiskurs" betreiben wolle. Dass genau das bei
Netzkunst unsinnig und kontraproduktiv ist, wird im Buch wieder und wieder
betont. Ich persönlich habe - da mit dem traditionellen Kunstbetrieb kaum
verbunden - an der Erhebung von Netzkunst auch null Interesse. Die Kunst,
um die es in meinem Buch geht, steht eher pars pro toto für eine viel
weitergehende Netzkultur, die mich interessiert - wie in dem Buch auch fast
schon gebetsmühlenhaft hervorgehoben wird.

Um mir die unkritische Glorifizierung von Netzkunst vorwerfen zu können,
muss sich die Autorin die Fakten daher ganz schön zurechtbiegen. Ich will
darum im folgenden einige der "Argumente", die in ihrer Polemik vorgebracht
werden, Aussagen aus dem Vorwort meines Buches gegenüberstellen. Im übrigen
überlasse ich es dem Leser zu entscheiden, inwiefern ein Buch, das zum
grossen Teil aus einer Sammlung von Interviews besteht, zur
"Mystifizierung" der Netzkunst, die mir vorgeworfen wird, beitragen soll.
Here we go: 


Kritik: Die Methode des Buches "wäre kein Problem, wenn Baumgärtel das,
womit er sich verdient gemacht hat (sic!), thematisch gegliedert und einer
kritischen Interpretation unterzogen hätte." 

"net.art", S. 7: "Dieses Buch besteht zum größten Teil aus Interviews, denn
es soll keine endgültige Monographie der Netzkunst sein, sondern eine
Momentaufnahme ihrer Entwicklung liefern, um im brechtschen Sinne
´Dokumente zu schaffen´. Ich fand es wichtig, erst einmal die Künstler
selbst zu Wort kommen zu lassen, statt sie und ihre Arbeiten vorschnellen
Analysen zu unterziehen. Eine zu frühe Kanonisierung kann das Ende einer
jungen Kunstrichtung sein. Darum soll dieses Buch eine mosaikartige
Übersicht über die Kunst im Internet bieten und nicht ihre endgültige
"Grosse Erzählung" schreiben."


Kritik: Das Buch hält "einen modernistischen Hochkulturdiskurs am Laufen."
(sic!)

Vorwort "net.art", S. 8: "Ein Aspekt, der Künstler am Internet zu Beginn
faszinierte, war der Umstand, daß im Netz zwischen "High" and "Low" kaum zu
unterscheiden ist. Indem dieses Buch eine Reihe von Praktiken, die im und
mit dem Internet stattfinden, zur Kunst erklärt, führt es natürlich auch
wieder die alte Trennung zwischen "großer Kunst" und allem, was es sonst
noch an Daten im Internet gibt, ein. Mir ist selbst nicht ganz wohl dabei,
solche Distinktionskriterien ins Spiel zu bringen. Aber ich weiß, daß eine
Dokumentation von den vielen verschiedenen Dingen, die im Internet
stattfinden, in der Form, wie sie dieses Buch unternimmt, keine Chance auf
Veröffentlichung gehabt hätte. Darum habe ich mich mit dieser Buch auf die
Kunst im Internet beschränkt..."


Kritik: "Baumgärtel betreibt regelrechte Geschichtsklitterung, in der zum
Beispiel wichtige VertreterInnen von Fluxus wie Emmet Williams zu von der
Kunstgeschichte missachteten Mail-Artists werden..." 

Die betreffende Passage besteht aus genau zwei Sätzen und lautet
("net.art", 18): "Mitte der 60er Jahre begannen auch verschiedene
Fluxus-Künstler (wie Ray Johnson, Emmett Williams, Arthur Koepke oder
George Brecht) damit, sich auf Postkarten kleine Arbeiten zuzuschicken,
diese zu bearbeiten und weiterzuschicken. Obwohl einige der Arbeiten aus
dieser Zeit heute zum Kanon der Kunstgeschichte gehören... ist die Mail Art
als Ganzes bis heute ein weitgehend übersehenes Genre geblieben."


Kritik: Das Buch "suggeriert, dass Netzkunst nicht nur besser, sondern auch
die große Befreiung vom kapitalistischen Kunstsystem sei." (Besser als was
die Netzkunst sein soll, geht aus diesem Satz leider nicht hervor. Aus den
folgenden auch nicht.)
 
"net.art", S. 25: "Inzwischen... erscheint das Netz eher als ein
Katalysator, der kurzzeitig die gängigen Hierarchisierungsmethoden des
Kunstbetriebs erschüttert und inzwischen einigen Künstlern, die früh die
künstlerischen Möglichkeiten des Internets erkannten, schnelle Anerkennung
gebracht hat."


Kritik: "Zu fragen bleibt darüber hinaus, wem es etwas bringt, wenn die
Community von spielerisch agierenden NetzpraktikerInnen, die sich zum Teil
selbst - und oft ironisch - als "net.artists" bezeichnet haben, zu großen
Künstlerinnen verklärt werden."

"net.art", S. 13f: "Zwar hat sich in Europa in den letzten zwei Jahren eine
Reihe von Künstlern unter dem Begriff net.art zusammengefunden - aber schon
dieser Neologismus kann auch als ironische Instrumentalisierung der
eingeschliffenen Kunstwelt-Mechanismen verstanden werden. ‚Der Begriff
net.art', sagte der russische Künstler Alexei Shulgin in einem Interview
mit dem Online-Magazin ‚Telepolis', ‚erinnert viel eher an einen Dateinamen
in UNIX als an einen neuen Ismus. Ich finde das sehr wichtig; denn dieser
Begriff in dieser Schreibweise enthält sehr viel Ironie.'... Nichts läge
mir ferner, als mit den folgenden Interviews irgendwelche ‚Klassiker der
Netzkunst' zu küren."


Diese ahnungslose Kritik offenbart vor allem eins: die Autorin ist nicht
nur mit der deutschen Sprache und ihrer Grammatik, sondern auch mit der
Materie wenig vertraut. Sonst wären wohl nicht so viele sachliche Fehler in
einem relativ kurzen Text. Einige Beispiele: "Telepolis" ist keine
Mailingliste, sondern ein Internetmagazin; die Bilder, die den Text
illustrieren, sind nicht von Heath Bunting, sondern aus einer Arbeit von
Alexei Shulgin; Nam June Paik hat den Begriff des "Information
Super-Highway" bis zum Beweis des Gegenteils tatsächlich geprägt; Mail Art
wird nicht nur von mir als Vorläufer der Konzeptkunst betrachtet; welche
nicht-näher benannten "radikalen Kunstpraktiken" der Sechziger Jahre von
den in meinem Buch beschriebenen Projekten unkritisch aufwärmt werden,
würde ich auch mal gerne wissen etc. Ganz schön viel Quatsch für so einen
kurzen Text, oder? 

MfG, 
Tilman Baumgärtel

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I think, 
and then I sink
into the paper 
like I was ink.
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