Tilman Baumgaertel on Sun, 1 Dec 96 21:53 MET


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nettime: Interview mit Jonathan Crary


Sehen in der kapitalistischen Moderne

Ein Gespraech mit dem amerikanischen Kunsthistoriker Jonathan Crary

Von Tilman Baumgaertel

Der amerikanische Kunsthistoriker Jonathan Crary beschaeftigt sich mit der
Geschichte des menschlichen Blicks. Fuer den Professor an der Columbia
University in New York sind das Sehen und die menschliche Subjektivitaet keine
ahistorischen Konstanten, sondern durch technologische, soziale und kulturelle
Bedingungen gepraegt. Technische oder soziale Veraenderungen rufen daher
Veraenderungen der menschlichen Wahrnehmung hervor, die
auch in der Kunst reflektiert werden, wie Crary in seinem Buch "Techniken des
Betrachters" zeigt, das jetzt auf deutsch erschienen ist (Verlag der Kunst,
Dresden/Berlin 1996, 56 Mark). "Wenn das Sehen in der kapitalistischen Moderne
ueberhaupt ein dauerhaftes Merkmal hat, dann das, dasz es ein solches Merkmal
nicht mehr gibt", lautet eine These Crarys. 

Zur Zeit arbeitet Crary an seinem zweiten Buch, in dem es um das Phaenomen der
Aufmerksamkeit geht, das fuer ihn am Ende des 19. Jahrhunderts zu einem
zentralen Problem der Psycholgie, Philosophie und Kunsttheorie wird und bis
heute ein Leitmotiv der "Gesellschaft des Spektakels" geblieben ist. In einem
Gespraech beschreibt er, was seine "archaeologischen Studien" der Fruehmoderne
fuer die Gegenwart bedeuten.

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?: Herr Crary, unter Medienleuten kursiert die Weisheit: "Aufmerksamkeit ist der
wertvollste Rohstoff unserer Zeit." Sie forschen zu Zeit darueber, wie sich die
Vorstellungen ueber die menschliche Aufmerksamkeit historisch veraendert haben.
Koennten Sie dieses Projekt in Bezug auf unsere Gegenwart genauer beschreiben?

Crary: Das menschliche Subjekt ist in der Moderne gezwungen, sich permanent an
neue technologische und soziale Bedingungen der Wahrnehmung und des Sehens
anzupassen. Zur Zeit beschaeftige ich mich damit, wie eine bestimmte Vorstellung
von Aufmerksamkeit, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt, zu einem
Ordnungsmechanismus fuer das potentielle Chaos des menschlichen Bewusztseins
wird. Ohne diese Konzeption von Aufmerksamkeit waere das menschliche Bewusztsein
einem unkontrollierbaren Konglomerat
von sinnlichen Reizen aus allen moeglichen Richtungen ausgesetzt. Am Ende des
19. Jahrhunderts beginnen ploetzlich Leute aus den unterschiedlichsten
Disziplinen, sich mit der Faehigkeit des Menschen zu beschaeftigen, aus einer
unendlichen Zahl von Stimuli eine fokussierte Auswahl zu treffen.  

?: Ich bin ueberrascht, dasz Sie das Reglement der Aufmerksamkeit als
Kennzeichen der Moderne beschreiben. Seit Baudelaire gilt doch eigentlich der
Flaneur mit seinem unaufmerksamen, schweifenden Blick als das moderne Subjekt
schlechthin.   

Crary: Genau dieser Binsenweisheit, dasz Moderne und Unaufmerksamkeit
zusammengehoeren, wie es in der von Leuten wie Kracauer und Simmel beeinfluszten
Literatur heiszt, will ich widersprechen. Natuerlich verlangt die kulturelle
Logik des Kapitalismus danach, dasz wir unsere Aufmerksamkeit ununterbrochen von
einer Sache zu einer anderen "umschalten" koennen. Aber diese Methode des Hin-
und Herschaltens ist ja gerade ein wichtiger Bestandteil dieses neuen Reglements
der Aufmerksamkeit, das sich Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt. Diese
Mechanismen werden benoetigt, damit das
Subjekt in der Moderne ueberhaupt noch funktionieren kann, obwohl es diesem
staendigen Overkill durch aeuszere Stimuli ausgesetzt ist.

Was Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt wurde, war die Tatsache, dasz es Grenzen
der Aufmerksamkeit gibt. Gerade wenn man sich auf etwas besonders konzentrieren
will, wird man unaufmerksam und abgelenkt. Darum gab es Versuche, die
Aufmerksamkeit einer rigiden Kontrolle zu unterwerfen, um sie produktiv zu
machen. Die Faehigkeit, sich zu konzentrieren, ist zum Beispiel von
Arbeitswissenschaftlern untersucht worden. Die haben herausgefunden, dasz gerade
die gespannteste Aufmerksamkeit irgendwann ins Gegenteil umschlaegt: Auch wenn
ein Arbeiter am Flieszband sehr konzentriert einer sich wiederholenden Arbeit
nachgeht, wird er nach einer gewissen Zeit in Tagtraeume abdriften
und sein Bewusztsein in einen unproduktiven Zustand freier Assoziationen
uebergehen. Man hat auch versucht, das zu reglementieren. Aber das hat nie
funktioniert, weil es eine gewisse Grenze gibt, ab der so eine Kontrolle die
gesellschaftliche Ordnung bedroht und dadurch sozial gefaehrlich wird, was dann
wieder wirtschaftlich unproduktiv waere. 

?: Sie haben Edison als einen Pionier dieser Neuorganisation von Wahrnehmung
beschrieben. Koennen Sie das erklaeren? 

Crary: Edison hat das kontinuierliche Neuerfinden der Apparaturen eingefuehrt,
mit denen man Energie oder Sounds oder Bilder als Waren konsumiert. Edison steht
fuer mich fuer diese ganze kapitalistische Logik, nach der das Subjekt sich
ununterbrochen an neue technologische Systeme anpassen musz.

?: Dasselbe, was heute von Microsoft mit Software gemacht wird...

Crary: Ja, genau. Leute wie Bill Gates, Stephen Jobs oder Andrew Groves arbeiten
an diesem historischen Projekt der ununterbrochenen Rationalisierung und
Modernisierung der Wahrnehmung weiter.

?: Wie hat dieses moderne Reglement der Aufmerksamkeit unsere unmittelbare
Gegenwart gepraegt? 

Crary: In der westlichen Hemisphaere verbringen wir immer mehr Zeit in einem
Interface mit einer Maschine, mit der wir durch eine Tastatur und einen Monitor
verbunden sind. Das ist ein Zustand aufmerksamer, konzentrierter Demobilisierung
des Koerpers. Die meisten Leute haben dieses Interface und die ungeteilte
Aufmerksamkeit, die es verlangt, schon vollkommen akzeptiert. Was mich
interessiert ist die Frage: Was ist historisch geschehen, dasz wir dieses
Interface voellig als alles durchdringendes Modell fuer kreative und produktive
Arbeit angenommen haben? Was fuer eine Rolle spielt Langeweile in diesem
Zusammenhang? Gibt es ein modernes Gegenstueck zu der "Traeumerei" der
Romantiker des 19. Jahrhunderts? Denn ich glaube nicht, dasz diese
Mensch-Maschinen-Beziehung zwischen uns und dem Computer jemals vollkommen
rationalisiert und produktiv gemacht werden kann. 

?: Aber trotz des Zustands, den Sie "Demobiliserung des Koerpers" nennen,
vermitteln einem die digitalen Medien ja die Illusion, sich frei und
selbstbestimmt im virtuellen Raum bewegen zu koennen. Gerade im "raumlosen Raum"
des Internet scheint das Subjekt trotz voelliger Bewegungslosigkeit "ueberall
und nirgends" zugleich zu sein...

Crary: Zur Zeit entwickeln sich verschiedene neue Mythen, die von technologische
Entwicklungen wie dem Internet ausgeloest worden sind. Es gibt jetzt im
Zusammenhang mit diesen neuen Telekommunikationsformen so viele positive
Behauptungen, dasz ich es langsam fuer wichtig halte, diese zu hinterfragen -
nicht weil ich technologiefeindliche waere, auch wenn mein Buch oft so
miszverstanden wird, sondern weil da so ungenaue, schwammige Begriffe verwendet
wird. 

Es wird zum Beispiel viel von "Information" und "Kommunikation" geredet. Es wird
so getan, als ob gesellschaftlicher Fortschritt identisch waere mit "Mehr
Information" und "Mehr Kommunikation". Dabei mueszte eigentlich auch dem
oberflaechlichen Betrachter auffallen, dasz das absurd ist. Die meisten von uns
leben heute in einer so entfremdeten sozialen Situation, dasz wir nicht mal mit
den Leuten von nebenan reden. Was sollen daran noch mehr Faxmaschinen oder Email
aendern? Das ist doch nur eine Eskalation des Konsums und nicht eine
Verbesserung von sozialer Interaktion. 

Mich wundert, dasz sich die meisten Menschen diesen technologischen Sachzwaengen
bemerkenswert geduldig fuegen statt sie zu hinterfragen. Man musz jetzt schon
alle zwei Jahre einen neuen Computer kaufen, wenn man technisch auf dem neuesten
Stand sein will. Die meisten Geraete, die wir als Verbraucher benutzen, sind ja
schon antiquiert, bevor wir ueberhaupt verstanden haben, wie man sie bedient. Es
gibt bei diesen Geraeten so eine Art eingebauter Melancholie darueber, wie
selbstverstaendlich es geworden ist, dasz unsere Erwartungen an diese Maschinen
staendig enttaeuscht werden. 

?: Glauben Sie, dasz sich unsere Wahrnehmung durch die ununterbrochene
Interaktion mit virtuellen Simulationen veraendern wird?

Crary: Niemand wird je vollstaendig in so einer komischen Cyber-Welt leben, auch
wenn das von diesen ganzen "Cyber-Cheerleadern" gerne behauptet wird. Aber ich
glaube schon, dasz sich durch diese neuen Technologien die Textur unseres
Alltagslebens aendern wird. Wir werden uns zwar immer noch waehrend des
groeszten Teils unseres Lebens im wirklichen, euklidischen Raum bewegen, also
zum Beispiel in Wohnungen wie dieser (zeigt auf die Waende des Raums in dem wir
sitzen). Aber was sich aendern wird, ist die Abruptheit, mit der man von einer
subjektiven Zone zu einer anderen springt. Das Alltagsleben wird so eine Art
Patchwork sein aus alten, "natuerlichen" Wahrnehmungsraeumen und den neuen,
technologischen Gebieten, in denen ganz andere Raumerfahrungen moeglich sind. 

?: Ich finde an diesen Virtual-Reality-Simulationen, die man mit dem Computer
oder ueber einen Datenhelm benutzten kann, so erstaunlich, dasz sie das alte
Camera-Obscura-Modell vollkommen unmodifiziert imitieren. Wohin man sich in
diesen dreidimensionalen Enviroments auch dreht und wendet, man sieht wie bei
einem Renaissance-Gemaelde immer auf den Fluchtpunkt. Glauben Sie, dasz das auch
unsere zukuenftige Wahrnehmungsweisen beeinflussen wird?

Crary: Ich glaube, dasz hat es schon. Bei diesen Simulation gibt es ja
ueberhaupt keine unscharfen Raender mehr wie bei unserer natuerlichen
Wahrnehmung. Diese technologischen Raeume sind von einer Art Hyper-Klarheit, und
manche Neurologen sagen, dasz das auch ganz neue Nervenreize und Reaktionen
ausloesen kann. Es gibt Studien, die zeigen, dasz die meisten Leute ihren
Fernseher so aufstellen, dasz der Bildschirm identisch ist mit dem Teil ihres
Gesichtsfeldes, in dem sie ganz scharf sehen. Das bedeutet natuerlich
auch, dasz unser Bewusztsein das unscharfe Umfeld vollstaendig ausschaltet.

Interview: Tilman Baumgaertel
 
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